1894 -
Bielefeld [u.a.]
: Velhagen & Klasing
- Autor: Schulze, Hermann, Kahnmeyer, Ludwig
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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Bauer: Nun, so will ich's thun. Ich habe zu Hause noch meine alten Eltern,
die haben mich einst ernährt, als ich schwach war; nun sie schwach sind, muß ich
sie ernähren. Das ist die Schuld, die ich zu zahlen habe, und darauf wende ich
täglich zwei Groschen. Das dritte paar Groschen, die ich ansleihe, wende ich auf
weine Kinder, damit sie etwas Gutes lernen und christlich unterwiesen werden.
Das soll mir und meinem Weibe einst zu gute kommen, wenn wir alt sind. Mit
den beiden letzten Groschen erhalte ich zwei kränkliche Schwestern, die ich gerade
nicht zu versorgen hätte. Diese verschenke ich also um Gottes willen.
König: Brav, Alter; nun will ich dir auch etwas zu raten geben. Hast du
mich schon einmal gesehen?
Bauer: Niemals.
König: Ehe fünf Minuten vergehen, sollst du mich fünfzigmal sehen und alle
fiinfzig meinesgleichen in der Tasche heimtragen.
Bauer: Das ist ein Rätsel, das kann ich nicht lösen.
König: Nun so will ich es thun. (Greift in die Tasche und zählt ihm 50
nagelneue Goldstücke in die Hand, aus deren jedes sein Bildnis geprägt war.)
Die Münze ist gut, denn sie kommt auch von unserm Herrgott, und ich bin sein
Zahlmeister. Nach dem Volksblatt.
104. Kannitverstan.
Ein Handwerksbursche kam ans seiner Wanderschaft auch nach Amsterdam.
Hier in dieser großen Handelsstadt fiel ihm sogleich ein großes und schönes Hans
in die Augen, wie er auf seiner ganzen Wanderschaft von Tuttlingen bis nach
Amsterdam noch keines gesehen hatte. Lange betrachtete er mit Bewunderung dies
kostbare Gebäude, die sechs Kamine auf dem Dache, die schönen Gesimse und die
hohen Fenster, größer als an des Vaters Hans daheim die Thür. Endlich konnte
er sich nicht entbrechen, einen Vorübergehenden anzureden. „Guter Freund," redete
er ihn an, „könnt Ihr mir nicht sagen, wie der Herr heißt, dem dieses wunder-
schöne Haus gehört mit den Fenstern voll Tulipanen, Sternblumen und Levkojen?"
— Der Mann aber, der zum Unglück gerade so viel von der deutschen Sprache
verstand als der Fragende von der holländischen, nämlich nichts, sagte kurz und
schnauzig: „Kannitverstan" und schnurrte vorüber. Dies war nun ein hollän-
disches Wort und heißt auf deutsch so viel als: Ich kann Euch nicht verstehen.
Aber der gute Fremdling glaubte, es sei der Name des Mannes, nach dem er
gefragt hatte. Das muß ein grundreicher Mann sein, der Herr Kannitverstan,
dachte er und ging weiter.
Gass' ans, Gasff ein kam er endlich an den Meerbusen, der da heißt Het Ei,
oder auf deutsch das Ipsilon. Da stand nun Schiff an Schiff und Mastbaum
an Mastbanm. Er wußte anfänglich nicht, wie er es mit seinen zwei einzigen
Augen durchfechten werde, alle diese Merkwürdigkeiten genug zu sehen und zu
betrachten. Endlich zog ein großes Schiff seine Aufmerksamkeit an sich. Dasselbe
war vor kurzem aus Ostindien angelangt und wurde jetzt eben ausgeladen. Schon
standen ganze Reihen von Kisten und Ballen aus- und nebeneinander am Lande;
aber noch immer wurden mehrere herausgewälzt und Fässer voll Zucker und Kaffee,
voll Reis und Pfeffer darunter. Als er aber lange zugesehen hatte, fragte er
endlich einen, der eben eine Kiste auf der Achsel heraustrug, wie der glückliche
Mann heiße, dem das Meer alle diese Waren an das Land bringe. „Kannit-
verstan," war die Antwort. Da dachte er: „Haha, schaut's da heraus? Kein
Wunder, wem das Meer solche Reichtümer an das Land schwemmt, der hat gut