1894 -
Bielefeld [u.a.]
: Velhagen & Klasing
- Autor: Schulze, Hermann, Kahnmeyer, Ludwig
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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selten die haushohen Dünen überfluten oder durchbrechen. Eine ganz
entsetzliche Flut brachte der 13. November des Jahres 1872. Die
ganze Nacht halte ein furchtbarer Nordost getobt. Die See brüllte
wie ein rasendes Ungeheuer und warf haushohe Wellen gegen die
Dünen. Das Wasser schoss in Massen von den Deichen, die es über-
flutet und gebrochen, durch den Wald in das Dorf. In der etwas
höher gelegenen Pfarre hatten sich eine grosse Anzahl Menschen ver-
sammelt, Schutz suchend im Hause Gottes. Aber immer neue Wasser-
massen wälzten sich heran. In den Ställen brüllte das Vieh, ängstlich
und heiser bellten die Hunde vor ihren Hütten. Da zum Unglück spülte
die See auch noch die letzte Düne hinweg. Ein reifsender Strom schoss,
an der Pfarre vorbei. Stall um Stall stürzte zusammen, und das Wasser
brachte in seinem Strudel Balken und Sparren, Kühe, Pferde und Schafe.
Bald folgten die Möbel aus den Wohnungen. Tische, Stühle, Betten,
Bänke hatten sich durch die aufgelösten Wände einen Weg gebahnt.
Aus den Hütten, die jeden Augenblick den Einsturz drohten, suchten die
Menschen sich zu retten. Vielen gelang es, einen Baum zu erreichen
und sich daran festzuklammern. Andere riss das tosende Wasser in
seinem Strudel mit sich fort, und bald war ihr Hilferuf verstummt.
Unweit der Pfarre war eine Fischerhütte in höchster Gefahr. Die
Bewohner, ein altes Ehepaar, öffneten sich, da das Wasser den Haus-
boden erreichte, mit der Axt einen Weg durch die Sparren des Daches
und kletterten auf den First des Hauses. Von hier riefen sie bittend und
jammernd um Hilfe. Aber der reissende Strom war zu breit, und niemand
konnte ihnen helfen. Jeden Augenblick konnte das zerbrechliche Bauwerk
zusammenstürzen, es bedurfte nur des Anpralles irgend eines Baumes.
Tief erschüttert blickte alles nach der Hütte. Da drang durch das Tosen
der Wellen vom Firste des Daches her eine liebe, oft gehörte Melodie:
,,Ein’ feste Burg ist unser Gott!“
Und alles aus dem Pfarrhofe sank auf seine Kniee, und die Töne
des Chorals drangen durch den Sturm und das Gebrüll der Wogen. —
Was war das? Hatte der allbarmherzige Vater im Himmel durch
den Orkan das hohe Lied vernommen? Hatte er das Flehen seiner Kinder
in letzter Todesnot gehört? Der Hahn auf dem Turme kreischte auf, und
alles blickte nach oben. „Wir sind gerettet! Der Wind geht nach Süden.
Wir sind gerettet! Vater im Himmel, habe Dank!“
Und so war es. Der Orkan aus Nordost verwandelte sich im Augen-
blicke in Sturm aus Süden, und dieser trieb unwiderstehlich die tolle See
dahin, woher sie in ihrer Wut gekommen. Von Minute zu Minute sank
das Wasser so reissend wie es gestiegen.
Die Uhr vom Turme schlug ein Uhr nachmittags. Die Orgel der
kleinen Kirche rief zum Gebet. Niemals, niemals sind heifsere Gebete,
heifsere Worte des Dankes zu dem aufgestiegen, der Wind und Wogen
gebeut. Nach Engelke.
262. Nettnngswesen zur See.
I. Von allen Meeren fürchtet der Seefahrer die Nordsee am meisten.
„Nordsee — Mordsee!" sagt er und hat recht damit. Denn die weitgedehnten
Sand- und Schlammbänke derselben werden ihm leicht gefährlich. Auch die
Ostseeknste hat viele Stellen, die dem Schiffe leicht den Untergang bringen