1876 -
Essen
: Bädeker
- Autor: Haesters, Albert, Greef, Wilhelm
- Auflagennummer (WdK): 26
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch, Lehrbuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Regionen (OPAC): Bayern
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Evangelisch-Lutherisch
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4. Von der Undankbarkeit.
In einer Stadt, weit von hier, hatten die Leute eine kleine Kirche
gebaut, ein Thürmchen darauf gesetzt und eine Glocke darein gehängt.
Das Kirchlein stand immer offen, und Jeder konnte zu jeder Zeit hin-
eingehen. Und mitten in dieser Kirche hing oben von der Decke herab
ein Seil, das war an der Glocke im Thurm befestigt; und wenn man
an dem Seile zog, dann läutete die Glocke. Durfte dann aber Jeder
läuten, der nur wollte? — That das nicht bloß der Küster? — Nein,
Jeder durfte läuten, der einen Andern wegen Undankbarkeit zu ver-
klagen hatte. Und wenn er so das Glöcklein der Undankbarkeit läu-
tete , daß es hell durch die kleine Stadt ertönte und alle Leute es
hörten; dann kamen mehrere der Ältesten in die Kirche und fragten
den Kläger: „Was willst du?" Und dann ließen sie auch den ver-
klagten Undankbaren kommen und straften ihn nach ihrer Weis-
heit mit Worten und Thaten, und nöthigten ihn mit Liebe, daß er
sich bedankte, und wieder Gutes thäte dem, der ihm Gutes ge-
than hatte.
Nun wohnte aber auch in derselben Stadt ein reicher Mann, der
hielt sich ein Reitpferd, und wenn er verreiste, mußte ihn dasselbe
immer tragen, den ganzen Tag lang und den folgenden auch wieder.
Mit der Zeit wurde aber das treue Thier immer älter und immer
schwächer und blind und lahm, und konnte seinen Herrn nicht mehr
tragen. Und was that nun der reiche Herr?
Behielt er dankbar das treue Thier bei sich im Stall und pflegte
seiner, oder nicht? Nein, er behielt es nicht bei sich, sondern jagte es
fort aus dem Stall auf die Straße und in den Busch. Und das
arme, alte, kranke Thier mußte sein Futter selber suchen und konnte
doch nicht sehen! Da fand es denn freilich oft gar nichts und mußte
Hunger leiden und alle Nächte unter freiem Himmel zubringen, daß
der kalte Thau auf seinen Leib fiel, und seine alten Knochen froren.
Und am Tage schnupperte es humpelnd überall umher und suchte
Futter. So kam es denn auch einmal in die Kirche der Undankbar-
keit, die immer offen stand, und schnupperte drin umher und suchte
Futter — und fühlte mit seinem Maul das Seil und sog und zog
daran, und das Glöcklein auf dem Thurm fing an zu läuten. So-
gleich kamen die Ältesten der Stadt von dem Nathhause nach der
Kirche, und was sahen sie? Das arme, lahme, blinde Pferd des rei-
chen Mannes war am Läuten. „Ja, ja," sagten sie, „das Pferd
hat Recht, am Glöcklein der Undankbarkeit zu ziehen!" und ließen den
reichen Herrn kommen und sagten: „Siehe, du undankbarer Mann,
da steht dein treues Pferd und verklagt dich! Du hast wirklich sehr
undankbar an ihm gehandelt; darum rathen wir dir: Nimm es zu
dir und gönne ihm die kurze Zeit noch, die ^es leben mag!" Da
schämte sich der reiche Mann vor Gott und den Menschen, nahm das
gute Thier mit sich in den Stall, und fütterte es, bis es starb.