1908 -
Altenburg
: Bonde
- Autor: Jungandreas, R., Runkwitz, Karl
- Auflagennummer (WdK): 3
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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junger Rappe, wenn er mit seiner Mutter ans dem Statte gelassen
wird. Ich wills mit dir anders machen. — Also schnitt er alle
wilden Triebe ab und pfropfte gute dafür ein von der großen Herz-
kirsche. Und weil es so sein sollte, gediehen die edlen Reiser alle und
breiteten sich ans, daß der Stamm bald größer und herrlicher ward
denn alle Bäume im Garten. Und wer ihn zwanzig Jahr nicht mehr
gesehen hatte, der kannte ihn so wenig mehr als seinen Herrn, der ihn
gepflanzt hatte.
So geschmückt waren sie beide, als sie an einem Sonntagabende
nebeneinander standen, der Banm mit köstlichen Früchten und sein
Herr mit Mannesschönheit und mit Freude und Friede im Gesichte.
Also erkannte sie auch der Mann nicht, der sich an den Garten hernm-
schlich, als getraute er sich nicht bei Tage in das Dorf hinein. Und obgleich
der Müller wußte, daß dieser verlorene Sohn in den zerrissenen Schuhen
des Amtmanns Fritz sei, so tat er doch, als kenne er ihn nicht, son-
dern rief ihn zu sich in den Garten und sagte: „Freund, Ihr scheint
mir durstig zu sein. Da setzt Euch unter meinen Banm und esset ans
dem Körblein so viel Kirschen, als Euch beliebt, dieweil ich hineingehe
und ein Stück Brot dazu hole; dann könnt Ihr weiter gehen, wenn
Ihr wollt oder müßt!"
Aber der Müller wußte nicht, daß der verlorene Sohn einen Mord
auf seinem Gewissen hatte und daß die Rache zur Strafe über den,
der Böses tut, ihm schon auf der Ferse folgte. Und hätte er es
gewußt, so hätte er sich doch von ganzem Herzen darüber gefreut, daß
er dem Feinde das letzte Labsal reichen durfte. Es war aber für den
verlorenen Sohn das Henkersmahl. Denn noch hatte er die letzte
Kirsche auf der Zunge, da sprengten Reiter an den Gartenzann. Und
als er Miene machte, wieder zu entweichen, schoß ihn einer seiner Ver-
folger durchs Herz, daß er zusammensank und unter dem Kirschbaume
seinen Geist aufgab. Der Anführer der Schar aber rief und sprach:
„Also ist ihm heute geschehen, wie er seinem Hauptmann getan
! Stöber.
59. Die halbe Flasche.
Nach der Schlacht von Fehrbellin, in welcher die Schweden
von den Preussen geschlagen wurden, hat ein auf den Tod ver-
wundeter Schwede einen vorübergehenden preussischen Soldaten
flehentlich um einen Trunk. „Den sollst du haben, Kamerad“,
sagte dieser. Während er aber die Feldflasche losnestelte, ergriff
der tückische Schwede ein neben ihm liegendes Pistol und feuerte «