1908 -
Altenburg
: Bonde
- Autor: Jungandreas, R., Runkwitz, Karl
- Auflagennummer (WdK): 3
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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173. Im Spreewalde.
Es ist ein frischer, duftiger Morgen am Anfange des Juni. Die
Sonne badet sich in den unzähligen Wasserstraßen, die weite, üppige
Wiesenflächen und fruchtbare Felder wie die Maschen eines Netzes
kreuzweise durchziehen. Schnell und lautlos gleitet unser Kahn über
das blitzende Wasser dahin; ein kräftiger, schmucker Bursche steht am
Hinterteile des Fahrzeuges und schiebt es mit einer langen Stange
geschickt weiter. Wir sind im wendischen Spreewalde. Wir gleiten an
einzelnen zerstreut liegenden Bauernhäusern vorüber, die höchst schmuck-
los aus Holz gezimmert und mit Rohr bedeckt sind. Die Bewohner
sind fast sämtlich auf den Äckern tätig. Es sind derbe und frische
Kerngestalten mit blondem Haare, blauen Augen und runden, gutmütigen
Gesichtern. Die Männer sind in grobe, graue Leinwand gekleidet. Die
Tracht der Frauen ist malerisch bunt: rot und blau und gelb ge-
streifte Röcke, ein eng anschließendes Mieder, weiße, aufgeschürzte Hemd-
ärmel und ein rot und gelb geblümtes Busen- und Kopftuch, leicht
zum Schutze gegen die Sonne um den Kopf geschlungen. Aus
Schuhe und Strümpfe verzichtet der Spreewälder während des ganzen
Sommers.
Diese Leute sind spärliche Reste des einst so mächtigen wendischen
Volksstammes. Sie sprechen heute noch die Sprache, welche ihre Väter
vor tausend Jahren geredet haben, und halten an den Sitten und Ge-
bräuchen der Altvordern fest. Die Wildnis, welche vor Zeiten der
Spreewald war, urbar zu machen, hat viel Arbeit gekostet. Die un-
zähligen Gräben mußten mit dem Spaten gegraben und abgedämmt
werden, um den Sumpfboden trocken zu legen. Dadurch sind die fettesten
Wiesen, das fruchtbarste Gartenland entstanden. Die Zwiebeln, Gurken
und der Meerretüch des Spreewaldes sind weit und breit gesuchte
Ware. Auch die Wiesen bringen viel ein, das Spreewaldheu geht
sogar bis Berlin. Im Winter stehen alle Wiesen voll großer Heu-
haufen. Wenn das Eis trägt, kommen die Händler zu Schlitten und
kaufen die Vorräte auf.
Wir gleiten unter uralten, hohen Bäumen dahin; mächtige Eschen
und Buchen, Erlen und Eichen schlingen ihre grünen Zweige zum
kühlen, lufügen Dache ineinander und spiegeln sich üef unten im
dunkeln, feuchten Blau wieder. Schlanke Weiden neigen sich über
das Ufer und spielen mit den selben Blütenzweigen in der Flut.
Die Waldeinsamkeit hallt wider von dem Jubel der Vögel. Am
Wasserrande sitzt ein wendisches Mädchen in sauberer Volkstracht.