1900 -
Leipzig [u.a.]
: Klinkhardt
- Autor: Jütting, Wübbe Ulrich, Weber, Hugo, Lange, Karl
- Auflagennummer (WdK): 30
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
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nommen. Die Kerzen am Weihnachtsbaum können des Mittags um
12 Uhr im Dunkeln angezündet werden, und wer will, kann des
Morgens um 6 Uhr zu Bett gehen und des Abends um 6 Uhr wieder
aufstehen; es ist alles einerlei. Finster ist es und bleibt es, so daß
mancher zuletzt gar nicht mehr wissen mag, ob es denn eigentlich
Tages- oder Nachtzeit ist. Gewiß würden einem guten Deutschen die
Thränen in die Augen treten, sollte er die Sonne auf mehrere
Monate scheiden sehen. Dem Bewohner des Nordens ist dies auch
nicht angenehm, und sicherlich ist große Freude, wenn die Lampe wieder
ausgelöscht werden kann. Alt und jung schauen in den Tagen, wo
die Sonne wieder erscheint, erwartungsvoll nach der Gegend am
Himmel, wo das feierliche Morgenrot das Herannahen des lang-
ersehnten Tagesgestirns verkündet.
So wird der Winter hier von einer mehrere Monate langen
Nacht begleitet, wogegen der Sommer durch ebensolange Gegenwart
der Sonne entschädigt. So gut es aber auch dann die Sonne meint,
ein Sommer in unserm deutschen Vaterlande ist mir doch lieber als
im hohen Norden von Schweden und Norwegen. Zwar überziehen
sich in kurzer Zeit die Thäler mit Grün, auch fehlt es nicht an
Blüten mancherlei Art, und die Wärme steigert sich mit jeder Stunde,
da die abkühlende Nacht nicht eintritt, — aber an Kirschen und Birnen
ist nicht zu denken, ja nicht einmal an Kartoffeln; und Brot aus
Roggen gilt als Leckerbissen. Wer dort wohnt, der bekommt keinen
andern Vaum zu sehen als die Tanne oder die Birke, und wer aus
unserm Vaterlande dorthin ziehen will, der nehme nur Abschied von
den Buchenwäldern und Obstbäumen, von der Weinrebe und den
Weizenfeldern. Anfangs begleiten ihn auf seiner Reise zum Eismeer
hin zwar noch alte Bekannte: Apfelbäume, Birnbäume, Buchen und
Eichen; aber je weiter er reist, je mehr bleibt einer nach dem andern
zurück, bis er zuletzt nur noch die düstere Tanne und die zierliche
Birke neben sich schaut. Aber ehe er sich's versieht, sind auch diese
zu Zwergen zusammengeschrumpft, die kauernd hinter Klippen und
in Schluchten Schutz suchen. Hält er noch immer nicht an in seiner
Wanderung, so nehmen auch diese von ihm Abschied, und nun er-
innert ihn nur noch Weideugebüsch an sein Heimatland, bis auch
dieses verschwindet. Endlich überzieht noch das Heidekraut das endlose
Wellenland, Moose und Flechten polstern den Boden und triumphieren
als die einzig Unüberwindlichen siegreich über die Feinde alles Lebens,
über Frost und Schnee. Das Blöken der Schaf- und Rindviehherden
hat sein Ohr schon längst nicht mehr vernommen; schöne, kräftige
Hirten hat sein Auge schon längst nicht mehr gesehen. Die Menschen,
die er hier und dort etwa antrifft, kommen ihm fremdartig vor, kleiner
als daheim, mit einem andern Schnitt der Kleider und einem andern
Schnitt des Gesichtes. Es sind die Lappländer, mit welchen er im
äußersten Norden von Schweden und Norwegen Bekanntschaft macht.
Das wichtigste Tier in dieser Gegend ist das Renntier, ohne