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1. Vaterland und Weite Welt - S. 109

1894 - Leipzig [u.a.] : Klinkhardt
109 bei mir behalten, während ihr die Oberkleider ablegen und also leichter mit mir laufen mögt." Den Vorschlag ließen Hagen und Günther sich gern gefallen und legten die Obertleider ab und liefen wie zwei wilde Panther durch den Klee; aber Siegfried kam viel früher als sie an den Born, wo er den Speer an die Linde stellte und Schild und Schwert, Bogen und Köcher an dem Brunnen niederlegte; aber den kühlen Trunk gönnte er sich trotz seines Durstes noch nicht, sondern wartete ehrerbietig, bis Günther kam, denn ihm als dem Herrn des Landes gebührte die Ehre des ersten Trunkes. Aber schmachvollen Lohn erhielt der Held für diese Ehrerbietigkeit. Denn als er den König Günther hatte trinken lassen und sich nun selbst zu der kühlen Flut niederbeugte, da trug Hagen schnell Siegfrieds Schwert und Bogen auf die Seite, ergriff rasch den an die Linde gelehnten Speer und schleuderte ihn, während Siegfried noch trank, durch das Kreuz, das Kriemhilde auf des Gatten Gewand genäht hatte, daß das Blut des Helden hoch an seinem Mörder emporspritzte. Wütend sprang der Todwunde, dem die Speerstange noch zwischen den Schulterblättern aus dem Leibe hervorragte, vom Brunnen auf und suchte vergebens Schwert und Bogen, ergriff sodann den Schild, stürzte mit ihm dem fliehenden Hagen nach und traf, ob er gleich bis ins innerste Leben verwundet war, den schnöden Meuchelmörder so gewaltig aufs Haupt, daß er niederstürzte und unrettbar verloren gewesen wäre, wenn Siegfried sein gutes Schwert zur Hand gehabt hätte. Aber schon begannen dem herrlichen Helden die Kräfte zu schwinden, und mit dem Zeichen des Todes auf dem bleichen Antlitze sank Kriemhildens Gatte in die Blumen, über die sein Herzblut sich in breiten Strömen ergoß. Noch einmal raffte sich der Sterbende auf und rief Wehe über den feigen Mord, den er zum Lohne für seine treue Freundschaft erleiden mußte, und klagte um seine Gattin Kriemhilde und um seinen unmündigen Sohn, den er daheim gelassen hatte. „Wehe", rief er, „daß man mir nachsagen wird, ich habe Meuchel- mörder zu Blutsverwandten!" Schon schüttelte ihn der Todeskampf, aber noch immer bewegte ihn der Gedanke an sein geliebtes Weib, und noch einmal öffnete er den Mund und sagte zu Günthern und seinen Brüdern: „Vergesset nicht, daß sie eure Schwester ist, und handelt an ihr, wie es euch die Fürstentugend gebietet." Dann sank er in die Blumen zurück und verstummte für immer. — Noch jetzt singt das Volk am Rheine in einer tief ergreifenden Weise über den Tod des Helden: Und da er lag im Haine, und da sein Blut hinrann, da fingen selbst die Steine um ihn zu trauern an; da trauerten die Bäche um ihn, das Laub, das Gras, da trauerte mitsammen, was auf der Erde was. Und sollten denn die Herzen nicht Trauer tragen all', nicht alle Lippen klagen um solches Helden Fall? Und sollten denn die Augen nicht spenden Thränenzoll, da der dem Tod erlegen, der aller Siege voll? Wilhelm Osterwald.
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