1894 -
Leipzig [u.a.]
: Klinkhardt
- Autor: ,
- Hrsg.: Jütting, Wübbe Ulrich, Weber, Hugo
- Auflagennummer (WdK): 21
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Stadtschule, Landschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten, Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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Die Gefangenen wurden mit gezogenen Schwertern hineingetrieben und
die Thür sofort hinter ihnen geschlossen. Unbeschreiblich waren die Schreck-
nisse jener Nacht, wie sie die wenigen Überlebenden schilderten. Die Unglück-
lichen schrieen laut um Erbarmen und suchten die Thür gewaltsam einzu-
drücken — doch vergebens! Sie erhielten zur Antwort, man könne nichts thun
ohne den Befehl des Nabob, dieser aber schlafe und dürfe nicht geweckt werden.
Da steigerte sich die Verzweiflung der Gefangenen zum Wahnsinn. Sie
warfen einander zu Boden, sie kämpften um einen Platz an den Fenstern.
Ihre Qualen steigerten sich; sie rangen, sie tobten und flehten die Wache
an, auf sie zu schießen. Doch diese hielt Lichter an die vergitterten Fenster
und verlachte laut ihre Opfer. Allmählich legte sich der Tumult; man hörte
nur noch leises Stöhnen und Wehklagen.
Der Tag graute, der Nabob erwachte und ließ die Thür öffnen; es
dauerte eine ganze Weile, bis die Soldaten den Überlebenden Bahn machen
konnten, indem sie auf beiden Seiten die Leichen aufeinander häuften.
Dreiundzwanzig hohlwangige, bis zur Unkenntlichkeit entstellte Männer
wankten aus dem Leichenhause, die 123 Toten wurden sofort in eine
Grube verscharrt.
Nun bleibt die Thatsache diese, daß jene Männer, wenn auch das Klima,
die großehitze Indiens, ihrequalen steigerte, dennoch an schlechter Luft starben.
Das Atmen besteht bekanntlich darin, daß unsere Lungen blasebalg-
artig Lust ausströmen und einziehen. Die Luft, welche wir einziehen, ist
gute, frische Luft, die ausgeströmte ist schlechte, unreine. Einen Teil derselben
haben die Lungen zurückbehalten und sie mit dem Blute vermischt. Wenn
wir einen Menschen in einen Kasten einsperren, wo keine frische Luft ihn
erreichen kann, so muß er dieselbe Luft immer und immer wieder einatmen.
Nach und nach werden alle guten Bestandteile der Luft verbraucht, und es
bleiben nur die schlechten zurück; der Mensch muß sterben wie jene Unglück-
lichen in Calcutta.
Wo nun verschiedene Menschen schlafen, reicht die Luft für die Dauer
der Nacht auch nicht aus; sie sind also genötigt, dieselbe Luft immer und
immer wieder einzuatmen, so daß diese bis zum Morgen ganz untauglich
für die Lungen ist. Die Erwachenden erheben sich dann müde und ange-
griffen, anstatt erfrischt und gestärkt, wie das sein sollte. Ein kräftiger
Mann merkt das wohl nicht, doch schwächliche Frauen und namentlich Kinder
leiden darunter, ohne sich davon Rechenschaft zu geben. Wie oft hört man
die Klage: „Ich stehe ebenso müde auf, wie ich mich hinlegte!" — Oft
mag der Grund dafür der sein, daß die Lungen eine ungenießbare Luft
eingeatmet haben. Und wenn nicht, Gott Lob, Thüren und Fenster meist
so schlecht schlöffen, so stände es hiermit schlimmer. Freilich gewöhnt man
sich an die schlechte Lust und bemerkt sie kaum, so lange man selbst darin
steckt, doch vermindert das ihre Schädlichkeit nicht. Wenn man aus
einem ungelüfteten Schlafzimmer ins Freie tritt und dann wieder zu dem-
selben zurückkehrt, da merkt man erst, wie schlecht die Atmosphäre ist.
Reines Wasser, reine Luft, reine Haut, das sind die Haupt-
bedingungen einer guten Gesundheit.