1909 -
Berlin
: Oehmigke
- Autor: Berthold, Ludwig, Reinecke, Hermann, Janke, Otto
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Regionen (OPAC): Berlin
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die ersten Früchte, und er war begierig zu sehen, von welcher
Art sie sein möchten. Da kam der Sohn des Nachbars, ein
böser Bube, in den Garten und lockte den Sohn des Land-
mannes. Sie gingen hin und beraubten die Bäumchen allesamt
ihrer Früchte, ehe sie völlig gereift waren.
2. Als nun der Herr des Gartens hinzutrat und die kahlen
Bäumchen sah, war er sehr bekümmert und rief: „Warum hat
man mir das getan? Böse Buben haben mir meine Freude
verdorben!"
Diese Worte gingen dem Sohne des Landmannes sehr zu
Herzen, und er lief zu dein Sohne des Nachbars und sprach:
„Ach, mein Vater ist bekümmert um die Tat, welche wir
verübt haben. Nun hab' ich keine Ruhe mehr in meinem Ge-
müte. Mein Vater wird mich nicht mehr lieben, sondern mit
Verachtung strafen, wie ich es verdient habe."
Da antwortete jener: „Du Tor, dein Vater weiß es ja
nicht und wird es niemals erfahren. Du mußt es ihm nur
sorgfältig verhehlen und auf deiner Hut sein."
3. Als aber Gotthold — denn so hieß der Knabe — nach
Hause kam und das freundliche Antlitz seines Vaters sah, ver-
mochte er nicht wieder freundlich zu ihm hinauf zu sehen; denn
er dachte: „Wie sollte ich ihn fröhlich ansehen können, den ich
betrübt habe? Es liegt mir wie ein dunkler Schatten in meinem
Herzen."
Jetzt trat der Vater herzu und reichte jedem seiner Kinder
von den Früchten des Herbstes und auch den: Gotthold. Da
hüpften die Kinder herbei, freuten sich sehr und aßen; Gotthold
aber verbarg sein Antlitz und weinte bitterlich.
4. Da sprach der Vater: „Mein Kind, was weinest du?"
Gotthold antwortete: „Ach, ich bin nicht wert, daß ich dein
Sohn heiße. Ich kann es nicht länger tragen, daß ich vor dir
ein anderer scheine, als ich bin. Lieber Vater, tue mir fermer
nicht mehr Gutes, sondern strafe mich, damit ich wieder zu dir
kommen darf und aufhöre, mein eigener Quäler zu sein! Laß
mich nur hart büßen für mein Vergehen; denn ich habe die
jungen Bäumchen beraubt."
5. Da reichte ihm der Vater die Hand, drückte ihn an sein