1872 -
Halle a/S.
: Buchh. des Waisenhauses
- Autor: Keck, Heinrich, Meyn, Ludwig, Sach, August
- Hrsg.: Johansen, Christian
- Auflagennummer (WdK): 4
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Evangelisch-Lutherisch
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Bringet her dem Herrn, ihr Gewaltigen, bringet her dem Herrn
Ehre und Stärke! Ps. 29, 1.
165. Friedrich der Grosze mrd sein Page.
Ein berühmter preußischer General war in seiner Jugend Edelknabe an dem
Hofe Friedrichs des Großen. Er hatte keinen Vater mehr, und seine Mutter
nährte sich in ihrem Wittwenstande kümmerlich. Als guter Sohn wünschte er, sie
unterstützen zu können; aber von seinem Gehalte ließ sich nichts entbehren. Doch
fand er endlich ein Mittel, etwas für sie zu erwerben. Jede Nacht mußte einer
von den Edelknaben in dem Zimmer vor dem Schlafgemache des Königs wachen,
um diesem aufzuwarten, wenn er etwas verlangte. Manchen war dieses zu
beschwerlich, und sie übertrugen daher, wenn die Reihe sie traf, ihre Wache gern
einem andern. Der arme Page fing an, diese Wachen für andere zu übernehmen;
sie wurden ihm vergütet, und das Geld, welches er dafür erhielt, schickte er dann
seiner Mutter. Einst konnte der König des Nachts nicht schlafen und wollte sich etwaö
vorlesen lassen. Er klingelte, er rief, allein es kam niemand. Endlich stand er
selbst auf und ging in das Nebenzimmer, um zu sehen, ob kein Page da wäre.
Hier fand er den guten Jüngling, der die Wache übernommen hatte, am Tische
sitzend. Vor ihm lag ein Brief an seine Mutter, den er zu schreiben angefangen;
allein er war während des Schreibens eingeschlafen. Der König schlich herbei
und las den Anfang des Briefes, welcher so lautete: „Meine beste, geliebteste
Mutter! Jetzt ist es nun schon die dritte Nacht, daß ich für Geld Wache halte.
Beinahe kann ich es nicht mehr aushalten. Indessen freu' ich mich, daß ich nun
wieder zehn Thaler für Sie verdient habe, welche ich Ihnen hierbei schicke." —
Gerührt durch das gute Herz des Jünglings, ließ der König ihn schlafen, ging
in sein Zimmer, holte zwei Rollen mit Dukaten, steckte ihm in jede Tasche eine
und legte sich wieder zu Bett. Als der Edelknabe erwachte und das Geld in
seinen Taschen fand, konnte er wohl denken, wo cs hergekommen sei. Er freute
sich zwar darüber, weil er nun seine Mutter besser unterstützen konnte, doch erschrak
er auch zugleich, weil der König ihn schlafend gefunden hatte. Am Morgen, so-
bald er zum König kam, bat er wegen seines Dienstfehlers demüthig um Verge-
bung und dankte ihm für das gnädige Geschenk. Der gute König lobte seine
kindliche Liebe, ernannte ihn sogleich zum Offizier und schenkte ihm noch eine
Summe Geldes, um sich alles anzuschaffen, was er zu seiner neuen Stellung
brauchte. Der treffliche Sohn stieg hernach immer höher und diente den preußi-
schen Königen als ein tapferer General bis in sein hohes Alter. —
i 166. Anglist Hermann Francke. (1698.)
So hieß der Gottesnrann, der vieler Waisen Vater geworden ist und
durch Gebet und Arbeit ein Waisenhaus erbaut und fromme Stiftungen gegründet
hat, die als Zeugen seines Glaubens noch dastehen und zu unl reden. Francke
war Prediger und Lehrer in Halle. Sein Augenmerk war neben der Auslegung
der heiligen Schrift auf die hülfsbedürftige Jugend gerichtet, von welcher täglich
eine große Menge in seinem Hause zusammenkam, um Almosen zu empfangen.
Ihn jammerte des leiblichen und geistlichen Elends, worin er diese armen Kinder
traf. Wie gern hätte er auch an ihnen die Segnungen des Evangeliums zur