1872 -
Halle a/S.
: Buchh. des Waisenhauses
- Autor: Keck, Heinrich, Meyn, Ludwig, Sach, August
- Hrsg.: Johansen, Christian
- Auflagennummer (WdK): 4
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Evangelisch-Lutherisch
154
Feuer näherte sich mehr und mehr dem verhängnißvollen Orte der Pulver-
kammer.
Der Kapitän hatte eine kurze Berathung mit seinen Offizieren gehalten;
diese traten aus einander, und der Befehlshaber sprach mit lauter Stimme:
„Dänische Männer! Wir weichen dem Geschick! Das Schiss ist nicht
mehr zu retten, also will ich euch retten! Wir besteigen die Boote! Haltet
fest zu einander und seid ruhig und besonnen!"
Die Pfeifen der Bootsmänner erklangen; aber das Pfeifen des Sturmes
übertönte sie, und laut erhob sich von allen Seiten das Geschrei: „In die
Boote! In die Boote! Nette sich, wer kann!"
Alles stürzte nach der Seite hin, wo die bereits ausgesetzten Boote von
den aufgeregten Wellen auf und nieder geschleudert wurden. Umsonst versuchten
die Offiziere, ihre Anordnungen zu treffen; vergebens waren alle ihre Befehle!
Kopfüber stürzten sich die Matrosen in die zunächst liegende Barkasse, und als
diese überhäuft war, stieß sie von dem Schiffe ab.
Ein Knall! Neues Entsetzen! Die furchtbare Glut hat die Steuerbords-
Kanonen des Vorderkastells erglühen gemacht; sie entladen sich selbst; der
erste Schuß hallt weit hinaus in die Sturmesnacht; ihm folgt ein zweiter,
dritter. Die Barkasse, von dem Winde hoch emporgeschleudert, fliegt weit ab
vom Schiffe, die Kugeln sausen zischend durch das aufspritzende Wasser, sie
schlagen in die Seitenborde des Fahrzeuges, es sinkt in die Tiefe, und herzzer-
schneidend mischt sich mit dem übrigen verworrenen Lärmen das Angstgeschrei der
Versinkenden.
Der Kapitän benutzte dieses Ereigniß, das auf die rohen Gemüther der
Matrosen einen tiefen Eindruck zu machen schien; er schwingt sich auf eine Ka-
none, und umsprüht von herabströmenden Funken, ruft er: „Das ist die Strafe
des Ungehorsams! Der Arm Gottes züchtigt die Verräther, wenn es der Arm
der Menschen nicht mehr vermag! Gehorcht, oder ihr endet, wie sie! Das
Langboot vor!"
Aber starr standen die Männer vor dem neuen Unheil, das jetzt über
sie hereinbrach. Die Glut des Feuers strahlte über die Meeresfläche hin und
vergoldete die weißschäumenden Häupter der Wellen, Der in der Tiefe schlum-
mernde Hai schreckte aus dem Schlummer auf; es schien ihm, als ob es Tag
geworden sei und die Morgensonne ihr rosiges Licht auf die Meerflnt werfe.
Spritzend und schnaubend kamen die Ungeheuer des Meeres mit weitgeöfsneten
Rachen an die Oberfläche und umkreisten das brennende Schiff, hohe Wasser-
strahlen gegen den Nachthimmel aufspritzend, während die Kanonen des Back-
bords sich lösten imb wie ferner Donner verhallten.
Die Lust zum Leben siegte; hier war gewisser Untergang, dort eine Mög-
lichkeit zur Rettung. Die Matrosen, der Weisung ihrer Offiziere lvieder ge-
duldig folgend, stiegen in das Langboot hinab.
Dasselbe war gefüllt und versuchte nun, sich von dem brennender: Schisse
zu entfernen und ans dem drohenden Bereiche der Kanonen zu kommen, die
sich noch nicht alle entladen hatten. Die Schaluppe kam au die Reihe, und
die Offiziere verließen nun das Verdeck, das mit jedem Augenblick glühender
ward und ein längeres Verweilen nicht mehr gestattete. Der Kapitän war der
letzte. Als alle hinunter waren, setzte er den Fuß auf die schwankende Leiter;