1872 -
Halle a/S.
: Buchh. des Waisenhauses
- Autor: Keck, Heinrich, Meyn, Ludwig, Sach, August
- Hrsg.: Johansen, Christian
- Auflagennummer (WdK): 4
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Evangelisch-Lutherisch
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zeigten sich zwar die Russen tapfer, aber sie mußten das Schlachtfeld räumen
und zogen sich tief in das Land hinein nach Moskau, der alten Hauptstadt des
Reiches, indem sie alles hinter sich her verheerten. Napoleon folgte ihnen gegen
den Rath seiner Generale. Da ereilte ihn in der alten Zaarenstadt die gött-
liche Gerechtigkeit. Am 14. September war er siegestrunken in das ehrwürdige
Schloß der russischen Kaiser, den Kreml, eingezogen; aber schon in der folgen-
den Nacht brachen dort über seinem Haupte die Flammen aus, welche vier
Tage lang wütheten und die ganze Stadt in Asche legten. Itnsäglicher Schrecken
ergriff das französische Heer, welches in Moskau sichere Winterquartiere zu finden
gehofft hatte. Ende Octobcr mußte Napoleon den Rückzug durch das feindliche
Land antreten. Hierauf hatten die Russen gewartet. Mit den Schwärmen
ihrer Kosacken verfolgten sie den fliehenden Feind, ließen ihm keine Ruhe, weder
bei Tag noch bei Nacht, und wer sich nur von dem Hauptheere entfernte, wurde
niedergemacht. Da brach Tod und Verderben noch furchtbarer iiber das ge-
waltige Heer herein. Früher als gewöhnlich begann der in den öden Steppen
Rußlands so harte Winter. Die fliehenden Schaaren hatten keinen Schutz ge-
gen seine Strenge; ihre Kleider waren zerrissen, die Füße, halb entblößt, zitterten
auf dem kalten Schnee; die Dörfer und Städte waren verwüstet, nirgends ein
Obdach gegen den furchtbar schneidenden Wind, kein Bissen Brot, den nagenden
Hunger zu stillen. Da ergriff Verzweiflung ihre Herzen. An jedem Morgen
lagen Haufen Erfrorener um die ausgebrannten Wachtfeuer. Die ermatteten
Krieger konnten sich kaum weiter schleppen; Tausende blieben zurück und wurden
eine Beute der russischen Wölfe. Als das erschöpfte Heer iiber die Beresina
zog — hinter ihm her waren die russischen Schaaren, — da bracher: die
Brücken, und Tausende fanden in den Fluten ihr Grab. — Da verließ Napo-
leon heimlich das Heer, und in einem Schlitten fuhr er nach Frarrkreich. Die
Hand des Herrn hatte ihn getroffen. Der hatte gesagt: „Bis hierher und nicht
weiter; hier sollen sich leger: beine stolzen Wellen! "
Ein Häuflein nur vor: der „großen Armee" zog durch Preußen. Sein
Anblick erregte Entsetzen r:nd Mitleiden. Halbnackt, zerlumpt, mit erfrorenen
Gliedmaßen, ausgehungert, krank und elend erschienen die wieder, welche erst vor
wenig Monaten in stolzem Uebermuth und des Sieges gewiß ausgerückt waren.
Da ergriff das preußische Volk die Ueberzeugung, daß nun die Stunde der Er-
lösung aus schwerer Knechtschaft geschlagen habe. „Das ist Gottes Finger!"
ging cs von Munde zu Munde. Es gab nur ein Gefühl im Vaterlande: glü-
henden Haß gegen die Franzosen. Es war das erklärlich. Sie hatten Preußen
zerstückelt, ausgesogen, den König und seine edle Gemahlin — die ruhte nun
schon im Grabe — verhöhnt. Der König war kaum noch Herr in seinem
Lande. Mit frechem Uebermuth hatten sie das Volk zertreten. Jetzt oder nie
war der Augenblick erschienen, wo man die Ketten sprengen konnte. Man war-
tete sehnsüchtig, daß der König das Zeichen zum Losschlagen geben sollte. Und
der erließ endlich am 3. Februar einen Aufruf, sich sreitvillig zun: Schutze des
Vaterlandes zu bewaffnen. Es war nicht gesagt, wem das gelte, es war auch
nicht nöthig, jeder wußte es. Der König hatte nach den vielen bitteren Erfah-
rungen seines Lebens kaun: zu hoffen gcivagt, daß der Aufruf eine tiefe Wirkung
42. Preußens Erhebung.