1872 -
Halle a/S.
: Buchh. des Waisenhauses
- Autor: Keck, Heinrich, Meyn, Ludwig, Sach, August
- Hrsg.: Johansen, Christian
- Auflagennummer (WdK): 4
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Evangelisch-Lutherisch
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Prozession anzuschließen, wurde, mit Ausnahme weniger, unter diesem Hause begraben.
Neun Zehntel der schönen Stadt Caracas stürzten völlig in Trümmer zusammen. Die
Häuser, welche nicht einsielen, waren dergestalt gesprungen, daß es niemand wagen
durfte, sie zu bewohnen. Die Hauptkirche, welche durch große Strebepfeiler gestützt ist,
blieb stehen.
Unter die 9 biö 10,000 Menschen, welche oben als die Zahl der durch daö Erdbeben
Getödtetcn angegeben wurden, sind nicht die Unglücklichen mit einbegriffen, welche schwere
Verletzungen erlitten und erst mehrere Monate später aus Mangel an Nahrung und gehöriger
Pflege ihren Geist aufgaben.
Die Nacht nach dem ersten Ostertage zeigte die herzzerreißendsten Scenen von Elend
und Kummer. Die dicke Staubwolke, welche sich über die Trümmer der Stadt erhob und
gleich einem Nebel die Luft verdunkelte, hatte sich wieder ans den Erdboden herabgescnkt;
die Stöße hatten aufgehört; eö herrschte nie eine schönere und stillere Nacht; der Mond,
dessen Scheibe fast voll war, beleuchtete die runden Gipfel des Gebirges, in dessen Thale
Caracas liegt, und die Heiterkeit deö Himmels stach gegen den Zustand der mit Ruinen
und Leichen bedeckten Erde gewaltig ab. Man sah Mütter mit Kindern auf ihren Armen,
die sie ins Leben zurückzurufen hofften; trostlose Frauen irrten durch die Stadt, um einen
Bruder oder Gatten aufzusuchen, über dessen Schicksal sic in Ungewißheit, schwebten, und
von dem sie glaubten, daß er im Gedränge von ihnen getrennt worden wäre; das Volk
drängte sich auf den Straßen, die man jetzt nur an den in geraden Linien anfgehäuftcn
Ruinen unterscheiden konnte, hin und her.
Alle Unfälle und Schrecknisse, welche man bei den Erdbeben von Lissabon, Messina
und anderen Orten erfahren hatte, wiederholten sich an diesem unheilvollen Tage. Die
Verwundeten, unter den Trümmern und Schutthaufen begraben, flehten die Vorübergehenden
mit lautem Jammer und Wehklagen um Hülfe an, und mehr als 2000 wurden aus-
ge,graben. Niemals zeigte sich das Mitleiden auf eine so rührende Weise, niemals sah man
es, so zu sagen, in seiner Thätigkeit erfinderischer, als bei diesen Bestrebungen, den Ver-
unglückten, deren Jammergeschrei das Ohr erreichte, Hülfe zu leisten. Unglücklicher Weise
fehlte es gänzlich an Werkzeugen, die sich zur Ausgrabung des Bodens und zur Wegräu-
mung der Trümmer eigneten, und man sah sich genöthigt, zum Ausscharren der noch
Lebenden die Hände zu gebrauchen. Diejenigen, welche verwundet waren, sowie die Kran-
ken, die sich aus den Spitälern geflüchtet, wurden an das Ufer eines kleinen Flusses ge-
schafft, wo sie kein anderes Schutzdach als das Laub der Bäume hatten. Betten, Leinwand
zum Verbände der Wunden, chirurgische Instrumente, kurz alles, was ihre Verpflegung
und Behandlung erforderte, lag unter den Trümmern begraben. In den ersten Tagen
fehlte es an allem, selbst an Nahrung, ebenso wurde in der Stadt das Wasser selten.
Durch die Erschütterung hatten die Brunncnröhren gelitten, und das Einsinken des Erd-
reichs hatte die Quellen, welche diese niit Wasser versahen, verstopft. Um Wasser zu erhal-
ten, mußte man sich bis zu dem erwähnten kleinen Flusse begeben, der bedeutend ange-
schwollen war, und auch hier fehlte eö an Gefäßen zum Schöpfen, da diese unter den Häu-
sern begraben worden waren.
Noch hatte man sich einer Pflicht gegen die Todten zu entledigen, die sowohl die
Sitte, als die Furcht vor den ansteckenden Krankheiten, welche aus der Fäulniß der
Leichname entstehen konnten, gebot. Da es unmöglich war, so viele Tausende halb unter
dem Schutt begrabener Leichname zu beerdigen, so wurden Commissaire ernannt, um
sie zu verbrennen. Mitten unter dem Schutt wurden Scheiterhaufen errichtet, und die
Verbrennung der Leichen dauerte zwei ganze Tage. Bei diesen allgemeinen Leiden und
Unfällen suchte das Volk den zürnenden Himmel durch eifrige religiöse Uebungen zu besänf-