1902 -
Halle a.S.
: Buchh. des Waisenhauses
- Autor: Sach, August, Meyn, Ludwig
- Hrsg.: ,, Keck, Heinrich, Johansen, Christian
- Auflagennummer (WdK): 16
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Evangelisch-Lutherisch
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103. Treue Freundschaft.
noch miteinander bis nach Warschau, der Hauptstadt in Polen, wo
der arme Schmied Arbeit bekam, der Schneider aber nicht. Beide
Freunde mussten sich hier also trennen. Als der Schneider wieder
auswanderte, gab ihm der Schmied eine Stunde weit das Geleite, und
unter Vergiefsung häufiger Tränen schieden sie, als wenn sie leibliche
Brüder gewesen wären, voneinander, ohne eben hoffen zu können, dass
sie sich in dieser Welt jemals wiedersehen würden.
Der Schneider wanderte darauf durch Böhmen, Sachsen, Hessen,
Lothringen bis nach Frankreich, wo er beinahe zehn Jahre blieb und
bald in dieser, bald in jener Stadt arbeitete, ohne irgenwo sein Glück
zu finden. Endlich kehrte er nach Deutschland zurück und geriet in
Frankfurt am Main unter die Werber, welche ihn überredeten, kaiser-
liche Dienste zu nehmen, und ihn als Rekruten nach Wien trans-
portierten. Da er aber schwächlich und fast beständig krank war, liess
man ihn nach einigen Jahren wieder laufen, wohin er wollte. Fast
nackt und bloss kam er nach Sachsen, um daselbst wieder Arbeit zu
suchen; allein da ihn in seinem elenden Anzuge niemand zur Arbeit
annehmen wollte, so musste er endlich betteln. Eines Abends spät
sprach er in einem Dorfe (es war gerade an einem Sonnabend) bei
einer Schmiede auch um einen Zehrpfennig an. Da dünkte dem Meister,
welcher mit vier Gesellen vor der Esse arbeitete, dass die Stimme des
Ansprechenden ihm sehr bekannt sei. Er nahm die Hängelampe in die
Hand, schaute dem Bettler ins Gesicht, und — „Je Bruder, bist du’s
oder bist du’s nicht?“ riefen beide fast zu gleicher Zeit; und in der
Tat waren es die Kameraden, die seit der Trennung in Warschau
nichts weiter voneinander gehört hatten. Der Schmied, welcher unter-
dessen in dieser Schmiede in Arbeit gestanden und durch die Heirat
der Witwe, welcher sie gehörte, wohlhabend geworden war, war ganz
ausser sich vor Freuden. Er herzte und küsste den Schneider und
schämte sich seiner nicht, obgleich er ein zerlumpter Bettler war. Er
führte ihn mit lautem Jubel in seine Stube, drückte ihn in den Grofs-
vaterstuhl am Ofen nieder, sprang auf einem Beine, wie ein Knabe,
und alle seine Hausgenossen sperrten vor Verwunderung die Augen
weit auf. „Lene“, sprach er zu seiner Frau, „geschwind springe hinauf
und hole ein feines Hemd und meinen Sonntagsstaat herunter, dass der
gute Freund da sich umkleiden kann!“ Der Schneider wollte allerlei
dagegen einwenden, aber der Meister hielt ihm den Mund zu und
sagte: „Schweig und sprich mir kein Wort dagegen! Du hast’s wohl
um mich verdient, dass ich mein bisschen Hab und Gut mit dir teile.“
Es half nichts: der Schneider musste sich putzen und aus einer langen
Pfeife rauchen. Der Meister gebot ihm, sich gerade so zu pflegen,
als ob er in seinem eigenen Hause wäre, und nachdem er in möglichster
Eile sein Tagewerk vollends geendet hatte, setzte er sich mit ihm zu
Tische und liess alle seine Leute hereinkommen, dass sie den fremden
nun recht genau besehen mussten. Dabei erzählte er ihnen denn,
wer der Fremde eigentlich sei, und was es mit ihrer beiderseitigen