1902 -
Halle a.S.
: Buchh. des Waisenhauses
- Autor: Sach, August, Meyn, Ludwig
- Hrsg.: ,, Keck, Heinrich, Johansen, Christian
- Auflagennummer (WdK): 16
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Evangelisch-Lutherisch
221. Der Schiff-brand
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ihnen eine trügerische Hoffnung auf. Plötzlich aber sprangen mit lautem Ge-
prassel die Luken auseinander, die Flamme stieg riesengroß empor, umarmte den
Fockmast und ergriff die Takelage desselben, von der untersten Webeleine bis
zum Wimpel mit rasender Schnelle emporsteigend.
„Die Boote! Die Boote! Rettet die Boote!" lautete der allgemeine Ruf,
und alle ließen ab von den unnützen Löscharbeiten.
Kaum berührte das erste Boot den Wasserspiegel, und das zweite sollte
folgen, als die finsteren Wolken, die aus dem Abgrunde aufstiegen, den höchsten
Gipfel erreicht hatten. Ein lauter Donner hallte vorüber, ein zischender Blitz
riß das Gewölk auseinander, und der Sturm stürzte sich heulend auf das
unglückliche Schiff. An den Stangen, die von dem Fockmast zum großen Mast
führten, züngelte das Feuer wie eine Schlange hinauf, und in einem Nu stand
auch dieser in Flammen; ein dichter Funkenregen fiel auf die Rahen und Stengen
des Besanmastes nieder; im Innern wütete die Glut fort, und das Feuer näherte
sich mehr und mehr dem verhängnisvollen Orte der Pulverkammer.
Der Kapitän hatte eine kurze Beratung mit seinen Offizieren gehalten; diese
traten auseinander, und der Befehlshaber sprach mit lauter Stimme:
„Dänische Männer! Wir weichen dem Geschick! Das Schiff ist nicht
mehr zu retten, also will ich euch retten! Wir besteigen die Boote! Haltet
fest zu einander und seid ruhig und besonnen!"
Die Pfeifen der Bootsmänner erklangen; aber das Pfeifen des Sturmes
übertönte sie, und laut erhob sich von allen Seiten das Geschrei: „In die
Boote! In die Boote! Rette sich, wer kann!"
Alles stürzte nach der Seite hin, wo die bereits ausgesetzten Boote von
den aufgeregten Wellen auf und nieder geschleudert wurden. Umsonst versuchten
die Offiziere, ihre Anordnungen zu treffen; vergebens waren alle ihre Befehle!
Kopfüber stürzten sich die Matrosen in die zunächst liegende Barkasse, und als
diese überhäuft war, stieß sie von dem Schiffe ab.
Ein Knall! Neues Entsetzen! Die furchtbare Glut hat die Steuerbords-
Kanonen des Vorderkastells erglühen gemacht; sie entladen sich selbst; der erste
Schuß hallt weit hinaus in die Sturmesnacht; ihm folgt ein zweiter, dritter.
Die Barkasse, von dem Winde hoch emporgeschleudert, fliegt weit ab vom
Schiffe, die Kugeln sausen zischend durch das aufspritzende Wasser, sie schlagen
in die Seitenborde des Fahrzeuges, es sinkt in die Tiefe, und herzzerschneidend
mischt sich mit dem übrigen verworrenen Lärmen das Angstgeschrei der Ver-
sinkenden.
Der Kapitän benutzte dieses Ereignis, das auf die rohen Gemüter der
Matrosen einen tiefen Eindruck zu machen schien; er schwingt sich auf eine
Kanone, und umsprüht von herabströmenden Funken, ruft er: „Das ist die
Strafe des Ungehorsams! Der Arm Gottes züchtigt die Verräter, wenn es
der Arm des Menschen nicht mehr vermag! Gehorcht, oder ihr endet, wie sie!
Das Langboot vor!"
Aber starr standen die Männer vor dem neuen Unheil, das jetzt über
sie hereinbrach. Die Glut des Feuers strahlte über die Meeresffäche hin und
vergoldete die weißschäumenden Häupter der Wellen. Der in der Tiefe schlum-
mernde Hai schreckte aus dem Schlummer auf; es schien ihm, als ob es Tag