1902 -
Halle a.S.
: Buchh. des Waisenhauses
- Autor: Sach, August, Meyn, Ludwig
- Hrsg.: ,, Keck, Heinrich, Johansen, Christian
- Auflagennummer (WdK): 16
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Evangelisch-Lutherisch
56. Polykarpus.
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55. Der gerettete Jüngling.
Eine schöne Menschenseele finden
ist Gewinn; ein schönerer Gewinn ist
sie erhalten, und der schönst' und schwerste,
sie, die schon verloren war, zu retten.
Sankt Johannes, ans dem öden Patmos
wiederkehrend, war, was er gewesen,
seiner Herden Hirt. Er ordnet' ihnen
Wächter, ans ihr Innerstes aufmerksam.
In der Menge sah er einen schönen
Jüngling; fröhliche Gesundheit glänzte
vom Gesicht ihm, und aus seinen Augen
sprach die liebevollste Feuerseele.
„Dieseujüngling", sprach er zudem Bischof,
„nimm in deine Hut. Mit deiner Treue
stehst du mir für ihn! hierüber zeuge
mir und dir vor Christo die Gemeine."
Und der Bischof nahm den Jüngling zu sich,
unterwies ihn, sah die schönsten Früchte
in ihm blühn, und weil er ihm vertraute,
ließ er nach von seiner strengen Aufsicht.
Und die Freiheit war ein Netz des Jüng-
lings;
angelockt von süßen Schmeicheleien,
ward er müßig, kostete die Wollust,
daun den Reiz des fröhlichen Betruges,
dann der Herrschaft Reiz; er sammelt' um sich
seine Spielgesellen, und mit ihnen
zog er in den Wald, ein Haupt der Räuber.
Als Johaunes iu die Gegend wieder
kam, die erste Frag' an ihren Bischof
war: „Wo ist mein Sohn?" „Er ist ge-
storben",
sprach der Greis und schlug die Augen nieder.
„Wann und wie?" — „Er ist Gott abge-
storben,
ist, mit Tränen sag' ich es, ein Räuber."
„Dieses Jüuglings Seele", sprach Jo-
hannes,
„fordr' ich einst von dir! Jedoch wo ist er?" —
„Auf dem Berge dort!" „Ich muß ihn sehen!"
Und Johannes, kaum dem Walde nahend,
ward ergriffen; eben dieses wollt' er.
„Führet", sprach er, „mich zu eurem Führer."
Vor ihn trat er. Und der schöne Jüngling
wandte sich: er konnte diesen Anblick
nicht ertragen. „Fliehe nicht, o Jüngling,
nicht, o Sohn, den waffenlosen Vater,
einen Greis. Ich habe dich gelobet
meinem Herrn und muß für dich antworten.
Gerne geb' ich, willst du es, mein Leben
für dich hin; nur dich fortau verlassen
kann ich nicht! Ich habe dir vertrauet,
dich mit meiner Seele Gott verpfändet."
Weinend schlang der Jüngling seine Arme
um den Greis, bedeckte sein Antlitz
stumm und starr; dann stürzte, statt der
Antwort,
aus den Augen ihm ein Strom von Tränen.
Auf die Kniee sank Johannes nieder,
küßte seine Hand und seine Wange,
nahm ihn neugeschenket vom Gebirge,
läuterte sein Herz mit süßer Flamme.
Jahre lebten sie jetzt unzertrennet
miteinander; in den schönen Jüngling
goß sich ganz Johannes' schöne Seele.
Sagt, was war es, was das Herz des
Jünglings
also tief erkannt' und innig festhielt?
und es wiederfand und unbezwingbar
rettete? Ein Sankt Johannes-Glaube,
Zutraun, Festigkeit und Lieb' und Wahrheit.
Herder.
56. Polykarp ns.
„Ivas tötet ihr die Glieder?" rief die Wut
des Heidenpöbels: „Sucht und würgt das
Haupt!"
Man sucht den frommen Polykarpus, ihn,
Johannes'bild und Schüler. Sorgsam hatten
die Seinen ihn aufs Land geflüchtet. „Ich
sah diese Nacht das Kissen meines Haupts
in voller Glut", so sprach der kranke Greis
und wachte mit besondrer Freude auf.
„Ihr, Lieben, mühet euch umsonst; ich soll
mit meinem Tode Gott lobpreisen." Da
erscholl das Hans vom stürmenden Geschrei
der Suchenden. Er nahm sie freundlich auf:
„Bereitet", sprach er, „diesen Müden noch
ein Gastmahl, ich bereite mich indes
zur Reise auch.". Er ging und betete
und folgete mit vielen Schmerzen ihnen
zum Konsul. Als er auf den Richtplatz kam,
rief eine mücht'ge Stimm' im Busen ihm:
„Sei tapfer, Polykarp!" — Der Konsul sieht
den heitern, schönen, ruhigsanften Greis
verwundernd. „Schone", sprach er, „deines
Alters
und opfre hier, entsagend deinem Gott!"