1902 -
Halle a.S.
: Buchh. des Waisenhauses
- Autor: Sach, August, Meyn, Ludwig
- Hrsg.: ,, Keck, Heinrich, Johansen, Christian
- Auflagennummer (WdK): 16
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Evangelisch-Lutherisch
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84. Das Erdbeben von Caracas.
84. Das Erdbeben von Caracas.
Pom Anfange des Jahres 1811 bis zum Jahre 1813 mar ein großer Flächen-
raum, der die Provinz Venezuela, Westindien und einen Teil von Nord-
amerika begreift, fortwährend den Erschütterungen unterirdischer Kräfte aus-
gesetzt. Am Mississippi befand sich der Erdboden Tag und Nacht in dem
Zustande eines steten Hin- und Herschwankens; die Stadt Caracas verspürte
den ersten Stoß im Dezember 1811. Die Provinz Venezuela litt vor der
Erschütterung, welche ihre Hauptstadt zerstörte, an großer Trockenheit; zu Cara-
cas und in einem Umkreise von 311 englischen Meilen um diesen Ort war in
den fünf Monaten, welche diesem Unglück vorausgingen, kein Tropfen Regen
gefallen. Am 26. März herrschte eine außerordentliche Hitze, die Luft war
ruhig und der Himmel wolkenfrei. Es war gerade der erste Ostertag, und ein
großer Teil der Einwohner befand sich in den Kirchen. Kein gefahrdrohendes
Zeichen ging dem furchtbaren Ereignisse voraus. Sieben Minuten nach 4 Uhr
abends wurde die erste Erschütterung gespürt. Sie war so stark, daß die
Glocken in den Kirchen ertönten, und dauerte 5 bis 6 Sekunden. Unmittelbar
auf diesen ersten Stoß folgte ein zweiter, welcher 10 bis 12 Sekunden anhielt.
Während desselben war der Boden in einem beständigen Schwanken begriffen
und wogte gleich einer kochenden Flüssigkeit. Man glaubte schon, die Gefahr
sei vorüber, als sich ein furchtbares unterirdisches Getöse vernehmen ließ, welches
dem Rollen des Donners glich. Auf dieses Getöse folgte eine Erschütterung in
senkrechter Richtung, und auf diese eine wellenförmige, die etwas länger dauerte.
Die Stöße befolgten entgegengesetzte Richtungen, von Norden nach Süden und
von Osten nach Westen. Es war unmöglich, daß irgend etwas die Bewegung
von unten nach oben und die einander kreuzenden Bewegungen aushalten konnte.
Die Stadt Caracas ward gänzlich zerstört, und 9 bis 10000 ihrer Einwohner
wurden unter den Trümmern der einstürzenden Kirchen und Häuser begraben.
Eine Prozession, welche gehalten werden sollte, hatte noch nicht begonnen, allein
das Gedränge in den Kirchen war so groß, daß gegen 3 bis 4000 Personen
durch den Einsturz der gewölbten Dächer zerschmettert wurden.
Im nördlichen Teile der Stadt war die Erschütterung am stärksten. Zwei
Kirchen dieses Teils, welche etwa 45 Meter hoch waren und deren Schiffe auf
Säulen von etwa 4 Meter im Durchmesser ruhten, wurden in eine Masse von
Ruinen verwandelt, die nirgends über anderthalb Meter hoch war. Das Ein-
sinken der Trümmer war so bedeutend, daß nach wenigen Jahren kaum noch
eine Spur von den Pfeilern und Säulen gesehen wurde. Die Baracken, aus
denen ein nördlich von diesen Kirchen gelegenes Quartier bestand, verschwanden
fast gänzlich. Ein Regiment Linientruppen, welches sich in einem großen Gebäude
dieses Stadtteils versammelt hatte, um sich dem feierlichen Zuge der Prozession
anzuschließen, wurde, mit Ausnahme weniger, unter diesem Hause begraben.
Neun Zehntel der schönen Stadt Caracas stürzten völlig in Trümmern zusam-
men. Die Häuser, welche nicht einfielen, waren dergestalt gesprungen, daß es
niemand wagen durste, sie zu bewohnen. Die Hauptkirche, welche durch große
Strebepfeiler gestützt ist, blieb stehen.
Unter die 9 bis 10 000 Menschen, welche oben als die Zahl der durch
das Erdbeben Getöteten angegeben wurden, sind nicht die Unglücklichen mit ein-