1902 -
Halle a.S.
: Buchh. des Waisenhauses
- Autor: Sach, August, Meyn, Ludwig
- Hrsg.: ,, Keck, Heinrich, Johansen, Christian
- Auflagennummer (WdK): 16
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Evangelisch-Lutherisch
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84. Das Erdbeben von Caracas.
begriffen, welche schwere Verletzungen erlitten und erst mehrere Monate später
aus Mangel an Nahrung und gehöriger Pflege ihren Geist aufgaben.
Die Nacht nach dem ersten Ostertage zeigte die herzzerreißendsten Scenen
non Elend und Kummer. Die dicke Staubwolke, welche sich über die Trümmer
der Stadt erhob und gleich einem Nebel die Luft verdunkelte, hatte sich wieder
aus den Erdboden herabgesenkt; die Stöße hatten aufgehört; es herrschte nie
eine schönere und stillere Nacht: der Mond, dessen Scheibe fast voll war, beleuch-
tete die runden Gipfel des Gebirges, in dessen Tale Caracas liegt, und die
Heiterkeit des Himmels stach gegen den Zustand der mit Ruinen und Leichen
bedeckten Erde gewaltig ab. Man sah Mütter mit Kindern auf ihren Armen,
die sie ins Leben zurückzurufen hofften; trostlose Frauen irrten durch die Stadt,
um einen Bruder oder Gatten aufzusuchen, über dessen Schicksale sie in Ungewiß-
heit schwebten, und von dem sie glaubten, daß er im Gedränge von ihnen getrennt
worden wäre; das Volk drängte sich auf den Straßen, die man jetzt nur an
den in geraden Linien aufgehäuften Ruinen unterscheiden konnte, hin und her.
Alle Unfälle und Schrecknisse, welche man bei den Erdbeben von Lissabon,
Messina und anderen Orten erfahren hatte, wiederholten sich an diesem unheil-
vollen Tage. Die Verwundeten, unter den Trümmern und Schutthaufen be-
graben, flehten die Vorübergehenden mit lautem Jammer und Wehklagen um
Hilfe an, und mehr als 2000 wurden ausgegraben. Niemals zeigte sich das
Mitleiden auf eine so rührende Weise, niemals sah man es, sozusagen, in seiner
Tätigkeit erfinderischer, als bei diesen Bestrebungen, den Verunglückten, deren
Jammergeschrei das Ohr erreichte, Hilfe zu leisten. Unglücklicherweise fehlte es
gänzlich an Werkzeugen, die sich zur Ausgrabung des Bodens und zur Weg-
räumung der Trümmer eigneten, und man sah sich genötigt, zum Ausscharren
der noch Lebenden die Hände zu gebrauchen. Diejenigen, welche verwundet
waren, sowie die Kranken, die sich aus den Spitälern geflüchtet, wurden an
das Ufer eines kleinen Flusses geschafft, wo sie kein anderes Schutzdach als das
Laub der Bäume hatten. Betten, Leinwand zum Verbinden der Wunden, chirur-
gische Instrumente, kurz alles, was ihre Verpflegung und Behandlung erforderte,
lag unter den Trümmern begraben. In den ersten Tagen fehlte es an allem,
selbst an Nahrung, ebenso wurde in der Stadt das Wasser selten. Durch die
Erschütterung hatten die Brunnenröhren gelitten, und das Einsinken des Erd-
reichs hatte die Quellen, welche diese mit Wasser versahen, verstopft. Um Wasser
zu erhalten, mußte man sich bis zu dem erwähnten kleinen Flusse begeben, der
bedeutend angeschwollen war, und auch hier fehlte es an Gefäßen zum Schöpfen,
da diese unter den Häusern begraben worden waren.
Noch hatte man sich einer Pflicht gegen die Toten zu entledigen, die so-
wohl die Sitte, als die Furcht vor den ansteckenden Krankheiten, welche aus
der Fäulnis der Leichname entstehen konnten, gebot. Da es unmöglich war, so
viele Tausende halb unter dem Schutt begrabener Leichname zu beerdigen, so
wurden Kommissäre ernannt, um sie zu verbrennen. Mitten unter dem Schutt
wurden Scheiterhaufen errichtet, und die Verbrennung der Leichen dauerte zwei
ganze Tage. Bei diesen allgemeinen Leiden und Unfällen suchte das Volk den
zürnenden Himmel durch eifrige religiöse Übungen zu besänftigen. Viele zogen
in ganzen Gesellschaften umher und sangen Sterbelieder, während andere auf