1902 -
Braunschweig Leipzig
: Wollermann
- Autor: Carstensen, Carl
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1901
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Inhalt: Zeit: Alle Zeiten
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): offen für alle
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2. Über ein Jahr nahm sich der König eine andre Gemahlin.
Es war eine schöne Frau; aber sie war stolz und übermütig und
konnte nicht leiden, daß sie an Schönheit von jemand sollte übertroffen
werden. Sie hatte einen wunderbaren Spiegel; wenn sie vor den trat,
sich darin beschaute und sprach:
„Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die schönste im ganzen Land?"
so antwortete der Spiegel:
„Frau Königin, Ihr seid die schönste im Land."
Da war sie zufrieden; denn sie wußte, daß der Spiegel die Wahr-
heit sagte.
3. Sneewittchen aber wuchs heran und wurde immer schöner,
und als es sieben Jahr alt war, war es so schön wie der klare Tag
und schöner als die Königin selbst. Als diese einmal ihren Spiegel
fragte:
„Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die schönste im ganzen Land?^
antwortete er:
„Frau Königin, Ihr seid die schönste hier,
aber Sneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr."
Da erschrak die Königin und ward gelb und grün vor Neid. Von
Stund an, wenn sie Sneewittchen erblickte, kehrte sich ihr das Herz
im Leibe herum, so haßte sie das Mädchen. Und der Neid und Hoch-
mut wuchsen wie ein Unkraut in ihrem Herzen immer höher, daß sie
Tag und Nacht keine Ruhe mehr hatte. Da rief sie einen Jäger und
sprach: „Bring das Kind hinaus in den Wald, ich will's nicht mehr
vor meinen Augen sehen! Dort sollst du es töten und mir Lunge
und Leber zum Wahrzeichen mitbringen."
4. Der Jäger gehorchte und führte es hinaus; und als er den
Hirschfänger gezogen hatte und Sneewittchens unschuldiges Herz durch-
bohren wollte, sing es an zu weinen und sprach: „Ach, lieber Jäger,
laß mir mein Leben! Ich will in den wilden Wald laufen und nimmer-
mehr wieder heimkommen." Und weil es so schön war, hatte der Jäger
Mitleid und sprach: „So lauf hin, du armes Kind!" „Die wilden
Tiere werden dich bald gefressen haben," dachte er, und doch war's
ihm, als wär' ein Stein von seinem Herzen gewälzt, weil er es nicht
zu töten brauchte. Und als gerade ein junger Frischling daher ge-
sprungen kam, stach er ihn ab, nahm Lunge und Leber heraus und
brachte sie als Wahrzeichen der Königin mit. Der Koch mußte sie in