1902 -
Braunschweig Leipzig
: Wollermann
- Autor: Carstensen, Carl
- Jahr der Erstauflage_wdk: 1901
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Inhalt: Zeit: Alle Zeiten
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): offen für alle
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ums Dasein kämpfen. Es kam nicht selten vor, daß es ans Neuhof
an dem Allernotwendigsten fehlte, an Brot gegen den Hunger und an
Holz gegen den Frost. Ein Lichtblick in diesem Lebensdunkel war die
freundliche Aufnahme, die sein herrliches Volksbuch „Lienhard und
Gertrud", das im Jahre 1781 erschien, überall fand. Die unver-
geßliche Königin Luise von Preußen schrieb in ihr Tagebuch: „Ich
lese jetzt ,Lienhard und Gertrud^ von Pestalozzi. Es ist mir wohl
in diesem Schweizerdorfe. Ware ich mein eigner Herr, so setzte ich
mich in meinen Wagen und rollte zu Pestalozzi in die Schweiz, um
dem edlen Manne mit warmem Händedruck zu danken. Wie gut
meint er es mit der Menschheit! Ja, in der Menschheit Namen danke
ich ihm!"
Im Jahre 1798 schlug endlich für Pestalozzi die Erlösungsstunde.
Sein nach nützlicher, menschenbeglückender Thätigkeit ringender Geist
fand ein neues Arbeitsfeld. Die Franzosen hatten den Kanton Unter-
walden verwüstet, die Stadt Stanz größtenteils in einen Schutt- und
Trümmerhaufen verwandelt und viele Kinder ihrer Eltern beraubt.
Vater- und mutterlose Waisen irrten obdachlos umher. Hunger und
Krankheiten waren ihre Begleiter. Dieser armen, verlassenen Kinder
nahm Pestalozzi sich in selbstverleugnender Liebe an. Die Regierung
überwies ihm das Kloster in Stanz als Waisenhaus und bewilligte
die Mittel zur Unterhaltung. Bis auf 80 stieg die Zahl der eltern-
losen Kinder, die er dem Elende entriß. Anfangs fehlte es im Waisen-
hause an allem: an Raum, an Betten, an Kleidern, an Nahrung.
Erst nach und nach wurde das Kloster wohnlich eingerichtet und alles,
was zur Unterhaltung nötig war, herbeigeschafft. Aber noch schlimmer
als der ordnnngslose Zustand des Hauses war die Verwilderung der
Kinder. Sie waren voll Ungeziefer, die Köpfe grindig und auf-
gebrochen, und die Haut war oft von Krätze zerfressen. Einige waren
so krank, daß sie kaum gehen konnten; andre glichen abgezehrten Ge-
rippen. Manche hatten immer im Elende gedarbt und waren das
Betteln, Stehlen und Lügen gewohnt; andre hatten bessere Tage ge-
kannt und waren jetzt anmaßend und anspruchsvoll und daneben hart
und hochmütig gegen die übrigen Waisenkinder. Alle aber waren trüge,
körperlich und geistig ungeübt und unwissend zum Erschrecken.
Das waren Pestalozzis Pfleglinge! Unter diese Verwahrlosten
trat er mit einem Herzen voll Liebe und unerschöpflicher Geduld. Er
war den Kindern alles in allem: ihr Herr und ihr Bedienter, ihr
Vater und ihre Mutter, ihr Aufseher und ihr Krankenwärter, ihr