1897 -
Wittenberg
: Herrosé
- Autor: Schanze, J., Schanze, W.
- Auflagennummer (WdK): 5
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrerbuch
- Schultypen (WdK): Fortbildungsschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
Der Herzog wußte, daß fein Generalsnperintendent Storch einen
Bruder in London hatte, der Schneider war, und er ließ jenen
deshalb fragen, ob er etwas an den Bruder in England mitzugeben
habe, er werde es gern besorgen. Der Superintendent benutzte die teilt
selige Aufforderung und übersandte einen Brief nebst einem kleinen
Päckchen. Einige Tage nach seiner Ankunft in London gedachte der
Herzog, der am königlichen Hofe als naher Verwandter sehr in An-
spruch genommen war, des mitgenommenen Briefes und schickte ihn
samt dem Päckchen mit einem freundlichen Gruße an den Schneider-
meister Storch. Der Schneider, hoch erfreut, ließ durch den Kammer
diener beim Herzog anfragen, ob er ihm nicht die Aufwartung machen
und seinem ehemaligen Landesherrn mündlich für die erwiesene Gnade
danken dürfe. Dem Manne eine leere Audienz zu geben, dünkte dem
Herzog doch seltsam, und so fiel seine Gutmütigkeit auf den Ausweg,
sich bei ihm einen Anzug zu bestellen. Der Schneider ward be
schieden.
Zur bestimmten Stunde fuhr eine schöne Kutsche vor der Wohnung
des Herzogs auf, ein Bedienter öffnete den Schlag, ein sehr seiner
Herr stieg ans, und es wurde dem Herzoge, der alles vom osen st er
ans gesehen hatte, der zum Maßnehmen entbotene Schneider ge-
meldet. Verwundert ließ der Herzog ihn eintreten und sah sich von
einem seinen Mann mit ungezwungenem Anstande ehrfurchtsvoll be
grüßt, der sich ihm als den Bruder des Generalsnperinteudenten
Storch vorstellte. Die ganze Erscheinung gefiel dem Fürsten, er knüpfte
ein Gespräch an und erkannte bald, daß er einen geistig gebildeten
Mann vor sich habe. Nach längerer Unterhaltung kam der Herzog
auf seine Bestellung und wollte Maß nehmen lassen. „Das ist
bereits geschehen!" erwiderte der Schneider. Wieso'?" fragte der
Herzog betroffen. „Ich habe Ew. Durchlaucht Gestalt mir angesehen,"
versetzte der Meister, „und mehr bedarf es nicht; ich hafte dafür, daß
alles aufs beste passen soll," und hierbei entfernte er sich mit ehr
erbietiger Bescheidenheit.
Das war dem Herzog noch nicht vorgekommen; aber er erstaunte
noch mehr, als am folgenden Morgen der Schneider mit dem fertigen
Anzuge vor ihm stand, und alles so paßte, als ob es auf feinen
Leib gemacht worden wäre. „Wie ist es möglich," rief der Herzog
ans, „daß Sie mit dem Anzüge schon fertig sind?" — „Wenn Ew.
Durchlaucht mir die Ehre erweisen wollen, mein Geschäftshaus zu be-
sichtigen. so werden Sie sich bald überzeugen, wie es möglich ist. Ich
betreibe mein Geschäft fabrikmäßig; jeder meiner Arbeiter hat seine be-
stimmte Aufgabe lind so geht das Werk schnell ans einer Hand in
die andere. Vielleicht ist es Ew. Durchlaucht nicht unangenehm, eine
solche Einrichtung kennen zu lernen." Neugierig nahm der Herzog
für den folgcmden Tag die Einladung an und ward fast bis zur
Verlegenheit überrascht, als der Meister ihn daneben zum Mittags-
mahle einlud, indem er versicherte, daß Seine Durchlaucht eine nicht
unwürdige Gesellschaft finden werde.
Um die bestimmte Zeit fuhr der Herzog vor der Schneiderwerk-