1910 -
Wittenberg
: Herrosé
- Autor: Schanze, W., Schanze, J.
- Auflagennummer (WdK): 12
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrerbuch
- Schultypen (WdK): Fortbildungsschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
Bald nahten die Franzosen anch der Festung Kolberg, um
sie zu erobern. Die Befestigungswerke befanden sich in erbärm-
lichem Zustande. Wälle, Gräben und Schleusenwerke waren ver-
fallen. Den Bewohnern fehlte es an Lebensmitteln, und die Zahl
der Verteidiger war unzureichend. Nur drei Kanonen waren brauch-
bar. Der Kommandant war ein mutloser, grämlicher Alter. Leicht
hätten die Feinde die Stadt überrumpeln können. Nettelbeck jedoch,
mit einem Herzen voll Gottvertrauen, Mut und Vaterlandsliebe,
war entschlossen, alles an die Erhaltung Kolbergs zu setzen. „Nicht
mit Reden und Schreiben ist hier zu helfen, sondern mit der Tat.
Jeder auf seinen Posten, ohne sich viel umzusehen. Alle für einen
und einer für alle." So lauteten seine Grundsätze. Auf Nettel-
becks Veranlassung bildete sich eine Bürgerwehr von 800 Mann.
Er besserte die Wälle, Schleusen und Verschanzungen aus und sorgte
für einen Vorrat an Lebensmitteln. Der Kommandant tat fast
nichts. Einen treuen Helfer fand Nettelbeck an dem kühnen Leutnant
von Schill, der mit anderen Versprengten in die Stadt kam und
später mit seiner Freischar ein am Strande gelegenes Wäldchen eine
Zeitlang tapfer verteidigte. Unter der Engherzigkeit und Herrsch-
sucht des Kommandanten konnte er es jedoch nicht lange aushalten.
Er verließ Kolberg und starb drei Jahre später an der Spitze seiner
mutigen Schar den Heldentod, getreu seinem Wahlspruche: „Besser
ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende."
Am 1. März 1807 begannen die Franzosen die Beschießung der
Stadt. Die Granaten schlugen bereits in die Häuser der Bürger ein.
Die Zahl der Toten und Verwundeten nahm täglich zu. Eines
Tages wurden die Schäden besichtigt, welche die feindlichen Geschosse
in den Straßen angerichtet hatten. Nettelbeck war auch zugegen.
Plötzlich schlug eine Granate ein und zersprang unweit des Kom-
mandanten, ohne jemand zu verletzen. Der Kommandant war bleich
vor Schrecken und stotterte die Worte heraus: „Meine Herren, wenn
das so fortgeht, werden wir doch noch zu Kreuze kriechen müssen."
Nettelbeck versetzten diese Worte in Wut, mit gezücktem Degen stürzte
er auf den Obersten los und schrie: „Halt! Der erste, wer es auch sei,
der das verdammte Wort zu Kreuze kriechen spricht, oder von Über-
gabe der Festung redet, stirbt von meiner Hand!" Der Oberst
schäumte vor Wut. „Arretieren!"*) Gleich arretieren! In Ketten
und Banden mit ihm!" schrie er. Der Oberst wollte den Helden er-
schießen lassen; jedoch die Bürger traten Mann für Mann für den
Bedrohten ein, so daß ihm kein Haar gekrümmt wurde.
Bald danach schrieb Nettelbeck einen Brief an den König, worin
er sagte: „Wenn Eure Majestät uns nicht bald einen neuen und
braven Kommandanten zuschicken, so sind wir unglücklich und ver-
loren." Dieser Hilferuf fand Gehör. Major von Gneise-
n a u traf als Kommandant ein. Die Ankunft dieses rüstigen
Mannes von edler Haltung war eine herzliche Freude für den alten
') festnehmen.