1895 -
Essen
: Bädeker
- Autor: Windmöller, Friedrich, Schürmann, Franz
- Auflagennummer (WdK): 14
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrerbuch
- Schultypen (WdK): Fortbildungsschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
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ohne eben hoffen zu können, dass sie sieh in dieser Welt jemals wieder
sehen würden. Der Schneider wanderte darauf durch Böhmen, Sachsen.
Hessen, Lothringen bis nach Frankreich, wo er beinahe zehn Jahre blieb
und bald in dieser, bald in jener Stadt arbeitete, ohne irgendwo sein Glück
zu finden. Endlich kehrte er nach Deutschland zurück und geriet in
Frankfurt a. M. unter die Werber, welche ihn überredeten, kaiserliche Dienste
zu nehmen und ihn als Rekruten nach Wien brachten. Da er aber schwächlich
und fast beständig krank war, so liess man ihn nach einigen Jahren wieder
laufen, wohin er wollte. Fast nackt und bloss kam er nach Sachsen, um
daselbst wieder Arbeit zu suchen; allein, da ihn in seinem elenden Anzuge
niemand zur Arbeit nehmen wollte, so musste er endlich betteln.
Eines Abends spät sprach er in einem Dorfe (es war gerade an
einem Sonnabende) bei einer Schmiede auch um einen Zehrpfennig an.
Da dünkte dem Meister, welcher mit vier Gesellen vor der Esse arbeitete,
dass die Stimme des Ansprechenden ihm sehr bekannt sei. Er nahm die
Hängelampe in die Hand, schaute dem Bettler ins Gesicht, und — „je
Bruder, bist du’s, oder bist du s nicht?" riefen beide fast zu gleicher
Zeit; und in der That waren es die beiden Kameraden, die seit der
Trennung in Warschau nichts mehr voneinander gehört hatten. Der
Schmied, welcher unterdessen in dieser Schmiede in Arbeit gestanden
und durch die Heirat mit der Witwe, der sie gehörte, reich geworden
war, war ganz ausser sich vor Freuden. Er herzte und küsste den
Schneider und schämte sich seiner nicht, ob er gleich ein zerlumpter
Bettler war. Er führte ihn mit lautem Jubel in seine Stube, drückte ihn
in den Grossvaterstuhl am Ofen nieder, sprang auf einem Beine wie ein
Knabe, und alle seine Hausgenossen sperrten vor Verwunderung die
Augen weit auf. „Lene!" sprach er zu seiner Frau, „geschwind spring
hinauf, und hole ein feines Hemd und meinen Sonntagsstaat herunter, dass
der gute Freund da sich anders ankleiden kann!" Der Schneider wollte
allerlei dagegen einwenden, aber der Meister hielt ihm den Mund zu und
sagte: „Schweig und sprich mir kein Wort dagegen! Du hast’s wohl
um mich verdient, dass ich mein bisschen Hab’ und Gut mit Dir teile."
Es half nichts, der Schneider musste sich putzen und aus einer langen
Pfeife rauchen. Der Meister gebot ihm, sich gerade so zu pflegen, als
ob er in seinem eigenen Hause wäre, und nachdem er in möglichster Eile
sein Tagewerk vollends geendet hatte, setzte er sich mit ihm zu Tische
und liess alle seine Leute hereinkommen, dass sie den Fremden nun recht
genau besehen sollten. Dabei erzählte er ihnen dann, wer der Fremde
eigentlich sei, und was es mit ihrer beiderseitigen Freundschaft für eine
Bewandtnis habe. Da hatten alle eine herzliche Freude über den An-
kömmling, und besonders die Frau vom Hause, die ihren Mann sehr
liebte und oft dem guten Schneiderburschen, der in Polen eine so treue
Stütze für ihren Mann gewesen war, ehe sie ihn persönlich kannte, Gottes
Segen gewünscht hatte. Der Meister liess noch am nämlichen Abend
zwei fette Gänse schlachten und auf den folgenden Tag alle Freunde und
Gevattern des Dorfes zu sich laden. „Juchhei! das soll mir ein Freudentag
werden!" rief er laut — laut auf und schwang dabei seine Mütze vor
Freude. Der Sonntag kam und in der Schmiede ging’s so fröhlich her,
als wenn es Kindtaufe gewesen wäre. Nachdem die Mahlzeit geendigt
war, erzählte der Schmied alle seine Begebenheiten und besonders, was