1895 -
Essen
: Bädeker
- Autor: Windmöller, Friedrich, Schürmann, Franz
- Auflagennummer (WdK): 14
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrerbuch
- Schultypen (WdK): Fortbildungsschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
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Nicht jeder Gottesdienst hat bei den ihm dienenden Völkern in gleichem
Maße das heilige Feuer der Kunst anzufachen gewußt, auch ist der Sinn für
das Schöne in der Kunst wohl kaum bei allen Völkerstämmen gleich verteilt.
Wenigstens lehrt uns die Geschichte, daß in der alten Welt vorzugsweise die
Ägypter und vor allen die Griechen in ihren Tempeln Bauwerke von vollendeter
Schönheit schufen. Ihnen zunächst stehen in der neuen Welt als Träger des
Christentums die germanischen Völker; auch bei diesen hat die Begeisterung
für das Erhabene in der unseren nordischen Verhältnissen entsprechenden Kirchen-
bauweise einen ureigenen Ausdruck gefunden, welcher mächtig genug war, zur
Zeit seiner höchsten Blüte weit über die Grenzen germanischen Völkergebiets
auch die Baukunst fremder Völker zu beherrschen.
Während das Wesentliche des heidnischen Tempelbanes darin bestand,
das Bildnis der Gottheit, der die Stätte geweiht war, aufzunehmen, und es
in der Regel nur den: Priester erlaubt war, das Innere der Tempel zu be-
treten, indes das Volk vor den Tempechallen des Opfers harrte, geboten die
Vorschriften des Christentums, daß die Gemeinschaft der Gläubigen sich inner-
halb des Gotteshauses versammle und Andacht übe. Hierdurch waren von
Anfang an zwei hochwichtige Unterschiede zwischen dem heidnischen Tempel und
der christlichen Kirche gegeben.
1. mußte der innere Raum der Kirche wesentlich größer sein, um die
Gläubigen aufnehmen zu können, und
2. war dieser größere Raum vollständig zu überdecken, während bei den
Völkern des Altertunis der innere Tempelraum nur teilweise überdeckt und
in der Mitte oben offen war.
Auf der Lösung dieser beiden Aufgaben beruht hauptsächlich die Entwickelung
und das Eigentümliche des christlicher: Kirchenbanes, dessen Errungerffchaften
später auch auf die weltliche Baukunst des Mittelalters übertragen wurden.
Die ersten Baumeister christlicher Kirchen gingen zur Erreichung ihres
Zieles von römischen Bauwerken aus, in denen sie sowohl was die Grund-
form, als auch was die Bauart der Decken anlangte, Vorbilder fanden, mittelst
deren sie den ersten räumlichen Bedürfnissen genügten. In dem Maße nun
wie sich das Christentum ausbreitete und die Zahl der Gläubigen vermehrte,
mußten auch die kirchlichen Anlagen vergrößert werden. Als das Christentum
die herrschende Religion geworden, galt es nunmehr nicht bloß Bauwerke her-
zustellen, welche ihren zwecklichen Bedürfnissen genügten, sondern auch das Wesen
des Christentums in seinem erhabenen Grundgedanken versinnbildlichen sollten.
So erhielt nach und nach die Grundforn: der Kirchen die Gestalt eines
Kreuzes, bei welchem das Chor ausschließlich den gottesdienstlichen Handlungen
diente, während das Schiff zur Aufnahme der Gläubigen bestimmt war.
Später erhielt das Chor einen weiteren Schmuck durch Umbauung mit
Kapellen, in welchen bestimmte Heilige verehrt wurden.
In gleicher Weise, vergrößerte sich nach und nach das Schiff, und da
die Schwierigkeit des Überdeckens weit gespannter Räume der weiteren Ver-
größerung Grenzen setzte, ging man dazu über, das Schiff durch Säulen-
reihen der Länge nach zu teilen, jedoch so, daß das Mittelschiff von überwiegender
Breite gegen die Seitenschiffe blieb und unterschied nun je nach dem so geteilten
Raume drei- oder fünfschiffige Anlagen. Zur Weite dieser Teilungen stand
ihrerseits die Höhe des umschlossenen Raumes in bestimmten Verhältnissen. Die
Decken bestanden entweder nur aus dem auch von innen sichtbaren Dach, oder
aus geraden, in Felder eingeteilten Holzdecken, oder aus Gewölbebildungen ver-
Schürmann u. Windmöller, Lehr- u. Leseb. f. Fortbildungs- u. Gewerîesch. I. g