1895 -
Essen
: Bädeker
- Autor: Windmöller, Friedrich, Schürmann, Franz
- Auflagennummer (WdK): 14
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrerbuch
- Schultypen (WdK): Fortbildungsschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
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95. Wom Wrannt weintrinken.
An der Entsittlichung vieler Menschen, an der Fülle der Zucht-, Kranken-
Äind Irrenhäuser, an der großen Zahl der Selbstmorde, an der Zerstörung
.des Familienglückes, an Armut und Bettelei, an Arbeitsscheu und Landstreichertum
trägt zum größten Teile das Branntweintrinken die Schuld. In Deutschland
wurden 1886 für 496 Millionen Mark Branntwein verbraucht, 66 Millionen
Mark mehr als für das Heer. Welches Elend steckt in solcher Zahl! Auf den
Kopf der Bevölkerung kommen 45 Liter Branntwein. 30 °/o aller Geistes-
kranken haben ihr fürchterliches Leiden dem Branntweingennsse zuzuschreiben,
50 o/o aller Verarmten sind Säufer und 70 % aller Verbrecher Trinker.
Krieg, Cholera, Seuchen und Pest richten viel Elend in der Welt an, aber
-der unendliche und überall verbreitete Jammer, welchen das Laster der
Trunksucht angerichtet, ist größer; denn es verwüstet Leib und Seele! Dieser
Feind des häuslichen und bürgerlichen Wohls ist leider in viele Wohnungen
eingedrungen, lärmt da gar arg, schlägt die Möbel entzwei, trägt die Betten
zum Hause hinaus, zerreißt die Kleider, prügelt die Kinder wohl gar zu
Krüppeln, mißhandelt die Frauen und legt am Ende dein Hausvater den
Strick um den Hals, ihm die Kehle auf immer zuzuschnüren, oder treibt ihn
hinab in den Fluß, um feinen Durst auf immer zu löschen.
Aber ist denn der Branntwein wirklich ein so böser, gefährlicher Feind?
Es scheint freilich nicht so. Er sieht ganz unschuldig aus, so rein und
unschuldig, wie das reine, klare Wasser, das Gott zur Erquickung aller
Lebendigen aus der Erde sprudeln läßt. Aber er ist nicht so unschuldig, er
ist ein Meuchelmörder und führt ein verderbliches, langsam aber sicher
wirkendes Gift mit sich, das allmählich den Mut lähmt, die Kraft bricht,
die Gesundheit zerstört, den Wohlstand untergräbt, den guten Ruf raubt,
den Frieden des Hauses und den Frieden der Seele vernichtet. Habt ihr
sie nicht gesehen, die Männer und Frauen, die im schönsten Lebensalter nicht
mehr angestrengt arbeiten können? Der Branntwein brach ihre Kraft! —
Habt ihr sie nicht gesehen, die kahlen, ausgeleerten Wohnungen, in denen
kaum noch ein Stuhl und ein Tisch und ein Strohlager, aber kein Bett,
kein Schrank, kein Sonntagsrock und keine Bibel mehr gesehen wird? Die
Branntweinflasche hat die Wohnung leer gemacht! Habt ihr sie nicht gesehen,
jene wankenden und schwankenden Gestalten, denen die Gasse nicht breit genug
ist und hinter welchen die Gassenbuben herschreien? Wer hat sie so herab-
gewürdigt zu den Tieren, wer hat sie um ihre Ehre gebracht vor den Menschen?
Das that der Branntwein! — Und wessen sind die schmutzigen, zerlumpten
Kinder mit ungekämmten Haaren, vor Hunger eingefallenen, todblassen Wangen?
Ach, es sind die Kinder einer oft im Branntwein sich berauschenden Familie,
die sie hinausstieß auf die Straße zum Betteln. — Und wer schaut so
ängstlich hinein durch die Fenster ins Wirtshaus und zittert und erbebt bei
jedem neuen Getobe? Das ist die liebende Frau. Sie sucht den ihr immer
noch teuren Mann und darf sich doch nicht hineinwagen in das wilde Gelage,
damit sie nicht gehöhnt und weggestoßen werde. In dunkler, feuchter Nacht
steht sie da, ob sie auch vor Kälte zittert, sie steht da und harrt, ob der
Mann nicht herauskomme, daß sie ihn bitten könne, mit heimzukehren zu den
verlassenen Kindern? — Und wen trägt man da hinab vom wilden Tanz-
saale? Es sind Verwundete. Als der Branntwein ihre Köpfe erhitzte und
die Besinnung geraubt hatte, da wurden die Mesier gezogen, die Gläser
.geworfen — und Menschenblnt vergossen. — Und wen zieht man dort aus