1892 -
Leipzig
: Amelang
- Autor: Fix, Wilhelm
- Auflagennummer (WdK): 28
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Evangelisch-Lutherisch
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260. Die Alpen.
1. Am mittelländischen Meere beginnt dieses höchste und mächtigste
Gebirge unsres Erdteils. Nachdem es auf einer langen Strecke die
natürliche Grenze zwischen Italien und Frankreich gebildet hat, tritt es
in die Schweiz ein, wo es sich am meisten ausbreitet und am mannig-
faltigsten verzweigt. Endlich durchzieht es die südlich von der Donau
gelegenen östreichischen und bayerischen Provinzen, besonders Tyrol,
Salzburg und Steiermark. So formt es im ganzen einen Bogen von
mehr als 120 Meilen Länge; dabei erreicht es an mehreren Stellen eine
Breite von 40 Meilen. Das ganze Alpengebiet aber umfaßt etwa
6000 Quadratmeilen und hat also beinahe die Größe des Königreichs
Preußen
Mächtig bewegt der Anblick der Alpen das Herz. Wer sollte durch
diese riesigen Gebirgsmassen nicht sogleich erinnert werden an den, der die
Berge gegründet hat, daß sie fest stehen seit den Tagen der Schöpfung?
Obgleich sie stumm sind, so bezeugen sie doch dem schwachen Menschen
aufs eindringlichste die Größe und Majestät des Allmächtigen.
Hoch in die Wolken ragen die meisten Gipfel der Alpenketten hinauf.
Bis in die kältesten Luftschichten erheben sie sich, in denen die Sonne
Schnee und Eis nicht mehr zu schmelzen vermag. So schimmern sie
selbst während der glühenden Hitze des Sommers im herrlichsten Silber-
glanze hernieder in die Thäler, die sie mit lieblichem Grün umgürten,
und in deren klaren, spiegelhellen Seeen die vom Kamm des Gebirges
wild herabstürzenden Gießbäche ihre Gewässer sammeln.
2. Nach der Südseite, nach Italien zu, fallen die Alpen meist steil
ab; auf der Nordseite aber senken sie sich sanft. Es giebt hier viele
mäßige Höhen, welche leicht erstiegen werden können. Zwischen ihnen
ziehen sich weite, anmutige Thäler hin, die mit den köstlichsten Produkten
gesegnet sind. In denjenigen, die sich nach Mittag öffnen, gedeihen die
herrlichsten Südfrüchte: Feigen, Kastanien, Citronen und Orangen. Auch
sind dieselben fast sämtlich stark bevölkert. Da reiht sich Stadt an
Stadt, Dorf an Dorf. Ein reges Leben herrscht in den Werkstätten
der fleißigen Handwerker, in den Fabriken, auf den Äckern und Wiesen,
in den Obst- und Weingärten. Die Äcker ziehen sich meist ziemlich weit
die Berge hinan. In der Höhe von 1250 Metern aber ist die Getreide-
grenze, d. h. auf einer Fläche, die über diese Höhe hinausliegt, gedeiht
kein Getreide mehr. Jetzt gelangt man in dichte Wälder mit schönem,
grünem Laubholz. Weiter hinauf erheben sich mächtige Tannen, Fichten
und andere Nadelhölzer. 1850 Meter über dem Meeresspiegel hört
jedoch der üppige Baumwuchs auf; hier ist die Baumgrenze. Berge,
welche über diese Höhe nicht hinausgehen, nennt man Voralpen. Von
jetzt an findet sich nur noch niedriges Knieholz und Veerenstranchwerk, oder
Moos und Flechten bedecken den Boden. Wilde Felsmassen lagern im
Wirrwarr durcheinander; nackte Felshörner erheben sich in seltsamen Ge-
stalten allerwärts. Allenthalben ist Totenstille; selbst die Winde halten
hier ihren Odem an sich. Nur der gewaltige Flügelschlag eines Lämmer-
geiers oder eines Adlers unterbricht zuweilen die feierliche Stille, oder
es stürzt rauschend ein Bergstrom in die gähnende Tiefe. Unter sich