1887 -
Düsseldorf
: Schwann
- Hrsg.: ,, Kahl, August
- Auflagennummer (WdK): 17
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Römisch-Katholisch
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boshaft, sprach der Knabe: Ehrwürd'ger Vater, viele
Menschen sind versammelt hier und warten auf die
Predigt.
3. Der blinde Greis erhob sich alsobald, wählt einen
Text, erklärt ihn, wandt' ihn an, so herzlich, daß die
Thränen mildiglich ihm niederflossen in den grauen
Bart.
4. Als er beschließend darauf das Vater unser gebetet
und gesprochen: „Erlöse uns, o Herr, von allem
Übel! Amen!", da riefen im Thal viel tausend
Stimmen: Amen, ehrwürd'ger Vater, Amen, Amen!
5. Der Knab' erschrak; reumütig knieet er nieder und
beichtete dem Heiligen die Sünde. „Sohn," sprach der
Greis, „hast du denn nicht gelesen, wenn Menschen
schweigen, werden Steine schrei'n? Nicht spotte künftig,
Sohn, mit Gottes Wort! Lebendig ist es, kräftig,
schneidet scharf, wie kein zweischneidig Schwert. Ünd
sollte gleich das Menschenherz sich ihm zum Trotz
versteinern, so wird im Stein ein Menschenherz sich
regen!"
45. Der Mönch.
In einem Kloster lebte ein Mönch, der Abends immer
eine große Mattigkeit und Abspannung verriet. Der Abt
fragte ihn einst nach der Ursache derselben. „Ach, anwortete
der Mönch, ich habe jeden Tag so vieles zu thun, daß
meine Kräfte nicht hinreichen würden, wenn die Gnade Got-
tes mich nicht stärkte. Ich habe zwei Falken zu zähmen,
zwei Hasen aufzuhalten, zwei Sperber abzurichten, einen
Lindwurm zu bezwingen, einen Löwen zu bändigen und
einen Kranken zu pflegen." — „Ei, sagte der Abt, das sind
thörichte Klagen : solche Geschäfte werden keinem Brenschen
zu gleicher Zeit aufgegeben, und in meinem Kloster habe ich
nie etwas von solchen Pflichten der Brüder gehört." —
„Und doch, ehrwürdiger Herr, versetzte der Mönch, habe ich
keine Unwahrheit geredet. Die zwei Falken sind meine Au-
gen; die muß ich mit großer Sorgfalt bewachen, damit
ihnen nicht etwas gefalle, was meiner Seligkeit schaden
könnte. Die zwei Hasen sind meine Füße; die muß ich be-
ständig zurückhalten, daß sie nicht nach schädlichen Vergnügen
laufen und auf dem Wege der Sünde wandeln. Die beiden