1905 -
Straßburg
: Bull
- Hrsg.: Michel, M., Walter, W.
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrerbuch
- Schultypen (WdK): Fortbildungsschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
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336. Unsre Armenpflege.
Des Heilands Wort: „Arme habt ihr allezeit unter euch" hat noch für
keine Zeit seine Berechtigung verloren, auch nicht für die unsrige. In der
mannigfachsten Gestalt tritt uns das menschliche Elend entgegen und wird
sicherlich nicht verschwinden, solang der Erdball Menschen tragt. Aber nicht
kalt und herzlos gehn die von „des Glückes Gunst Bedachten" an ihren
unglücklichen Mitmenschen vorüber, im Gegenteil, man will möglichst viel
Leid stillen und Elend lindern. Gemeinde, Bezirk lind Staat üben die
Armenpflege nach gesetzlichen Vorschriften ans, und gute, barmherzige Seelen
suchen einzeln oder in Verbindungen „den Stiefkindern des Glückes" das
schwere Los zu erleichtern. Von der Geburt bis zur Schwelle des Grabs
begleitet der Engel der Barmherzigkeit den Armen ans seinem Lebcnspfadc,
um sein Dasein zu einem menschenwürdigen zu gestalten.
In Krippen, d. h. nach der „Krippe zu Bethlehem" benannten
Bcwahranstalten, erhalten die armen Säuglinge großer Städte gegen eine
geringe Entschädigung gedeihliche Pflege, wodurch sie in der Mehrzahl vor
frühem Tod und langem Siechtum bewahrt bleiben. Diesen Veranstaltungen
werktätiger Liebe reihen sich die Kleinkinderschulen an, in welchen
besonders die armen Kinder von 2—6 Jahren während der Arbeitszeit der
Eltern an trauter Stätte die nötige Aufsicht und passende Beschäftigung
finden. Die Kleinkinderschulen, welche im Stcintal ihren Anfang genommen
haben, sind in unserm engern Vaterlande sehr verbreitet. Eine ähnliche und
sehr zweckmäßige Einrichtung sind in den größern rcichsländischen Städten
die Schülerhorte, durch welche die Schüler, die sich selbst überlassen sind,
vor den Gefahren der Straße geschützt und angemessen beschäftigt werden.
Hat aber das Kind Vater und Mutter verloren, so winkt helfend und
rettend die wichtigste Schöpfung christlicher Liebe: das Waise nhaus-
Hier werden ihm Liebe und Pflege, Erziehung und Vorbereitung fürs Leben
zuteil. Noch schlimmer als die Waisen sind die Kinder von Verbrechern,
Landstreichern u. s. w. daran. Ohne guten Familicneinflnß wachsen sic aus
und verwahrlosen. Ihrer nimmt sich die Besserungsanstalt in Hagenau
an, woselbst sie zu brauchbaren Gliedern der menschlichen Gesellschaft erzogen
werden. Schwachbefühigte Kinder werden in besondern Klassen unterrichtet
und blödsinnige in besondern Häusern, den Blödsinn igcnan st alten,
untergebracht. Auch für die blinden und taubstummen Kinder ist gesorgt.
In den Blindenanstalten werden die des Augenlichts beraubten Kinder
verpflegt und so weit fürs Leben ausgerüstet, daß sie sich später selbständig
ernähren können. Gleiches wird den taubstummen Kindern in den Taub-
stummenanstalten zuteil.
Nicht vergessen sei eine andre Wohlfahrtseinrichtung! Manche arme
Stadtkinder wohnen in dumpfen, ungesunden Wohnungen und leiden häufig
an Skrofeln und andern Krankheiten. Sie werden nun in Ferienkolonien,