1914 -
Metz
: Even
- Auflagennummer (WdK): 10
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
66
99. Tagedieb und Siebenschläfer.
Der Tagedieb und der Siebenschläfer wohnten einander
gegenüber. Als der Tagedieb einst wieder sein erstes Pfeifchen
geraucht und den fleißigen Leuten zugesehen hatte, wie sie an die
Arbeit gingen, da kam auch der Siebenschläfer ans Fenster.
Er streckte den Kopf mit einer gewaltigen Schlafmütze heraus
und gähnte. Der Tagedieb rief ihm sogleich hinüber: „Guten
Morgen, Herr Nachbar! Ausgeschlafen?" Und der Siebenschläfer
gähnte noch einmal und entgegnete: „Nicht so recht. Die Kinder
haben mich geweckt, als sie zur Schule gingen. Gäbe es doch
keine Schule mehr; denn sie macht nur Störung im Dorfe!"
Der Tagedieb gab ihm recht und fügte noch hinzu: „Ich bin auch
nie gern in die Schule gegangen. Sie ist eigentlich nur da, um
die Leute zu plagen. Ich bin übrigens groß geworden, ohne viel
gelernt zu haben, und wenn ich am Biertisch sitze, kann ich so gut
das Wort führen wie nur einer." — „Das ist wahr, Herr Nach-
bar", erwiderte der Siebenschläfer, „ich war auch lieber im Bett
als in der Schule. Aber heutzutage läßt man den Kindern gar
keine Ruhe mehr und straft sogar die Eltern, wenn die Kinder
die Schule versäumen. Ich weiß nicht, was daraus noch werden
mag."
Nachdem die zwei so gesprochen hatten, klopfte der Gerichts-
vollzieher bei dem Tagedieb an und rief: „Machen Sie auf; hier
ist ein Zahlbefehl für Sie!" Der Tagedieb erschrak und lief mit
dem Zahlbefehl schnell zu seinem Nachbar, mit welchem er eben
erst jene Unterredung geführt hatte. „Nachbar," rief er, „um
Gotteswillen helfen Sie mir; ich muß ja sonst von Haus und Hof!"
Der Siebenschläfer kratzte sich hinter den Ohren, gähnte noch
einmal und stammelte: „Ja, helfen! Das wollte ich gern, aber
ich kann nicht. Das Geld ist so rar, und wenn ich meine, ich hätte
ein paar Mark, so sind sie auch schon wieder fort. Wenn es nicht
so weit wäre, ich ginge selbst nach Amerika." Als der Tagedieb
von Amerika hörte, fiel ihm ein, dahin könne er am Ende auch
gehen, und er redete dem Nachbar zu, zusammen auszuwandern.
Er meinte, in Amerika brauche man nicht zu arbeiten und habe
doch satt zu essen, und der Siebenschläfer glaubte, dort könne
man viel schlafen und werde doch fertig.
Sie zogen daher beide nach Amerika, nachdem sie noch vorher
ihre Habseligkeiten veräußert hatten. In Amerika aber wurde
ihnen bedeutet: „Hier können wir keinen Tagedieb und keinen