1873 -
Hildburghausen
: Gadow
- Autor: ,
- Hrsg.: ,
- Auflagennummer (WdK): 10
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): koedukativ
Auf den Bergen, in den Gründen,
Und wohin das Auge blickt,
Hat mit ihren Duftgewinden
Poesie das Land geschmückt.
73. Ludwig der Springer.
Die Verwandten des ermordeten Pfalzgrafen Friedrich
brachten ihre Klagen bei dem Kaiser, Heinrich Iv., wieder
an, obwohl nun seit dem Mord bereits fünf Jahre verflossen
waren. Der Kaiser ließ den Grafen von Thüringen vor
sich laden; aber Ludwig trug Bedenken zu erscheinen, hielt
sich auch von da an keinem bestimmten Orte mehr auf, son-
dern war bald in dieser Burg, bald auf einer andern; denn
er wußte, daß der Kaiser auf ihn sahen und stellen ließ,
wie ein Vogler auf seinen Fang thut, und entging so noch
eine geraume Zeit der drohenden Haft.
Trotz aller Vorsicht des thüringischen Grafen geschah
es doch, daß er unversehens in die Gewalt der kaiserlichen
Dienstmannen kam, die aller Orten heimlich auf ihn lauer-
ten. Da wurde er nach dem Bergschlosse Giebichenstein bei
Halle geführt und dort in enge und lange Haft gelegt; denn
der Kaiser war außer Landes gezogen, und der Gefangene
sollte sein Urtheil bis zu dessen Zurückkehr erwarten und
durfte sich auch zu dem Richterspruch des Kaisers nichts
Guten getrosten. Zwei Jahre und acht Monate saß er ge-
fesselt in dem Kerkergemach und hatte Zeit genug, seine
Sünden zu bereuen. Traurig sah er hinab auf die Saale,
die damals näher, als jetzt, an dem Burgberge vorbeifloß,
und hinüber in die grüne freundliche Aue. Entkommen
schien unmöglich, denn nächstdem, daß er an einen Stock
gefesselt war, wurde er auch noch täglich von sechs Rittern
bewacht, und dennoch sann er Tag und Nacht auf Flucht,
zumal die Kunde von des Kaisers naher Rückkehr zu ihm
gelangte, und es hatte allen Anschein, daß des Kaisers
Gericht ihm das Leben absprechen würde. Da forderte
der Gefangene, daß man seinem Schreiber zu ihm lasse,
damit er sein Zeitliches ordne, sein Haus bestelle, und sei-
ner Diener einen, den er mit Botschaft an Frau Adelheid
senden wolle. Als dieses ihm verstattet worden war, gebot
er dem Diener heimlich, seinen weißen Hengst, den er
nur den Schwan nannte, herbei zu bringen, an einem
Th. Lesebuch. 10