1873 -
Hildburghausen
: Gadow
- Autor: ,
- Hrsg.: ,
- Auflagennummer (WdK): 10
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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diesem Geschäfte, und ein jedes zieht mit mehreren Hun-
den aus, die ihm eigenthümlich gehören, und die nur sei-
nen Worten allein folgen. Die vorigen Wächter kommen
dann mit den hungrigen Hunden zurück. Daher ist es
nicht selten, dass acht, zehn oder zwölf Hunde zugleich
in der Garn me über die Köpfe der Ruhenden wegsteigen,
für sich selbst bequeme Ruhestellen zu suchen. Sie be-
dürfen freilich der Ruhe; denn so lange sie draussen mit
dem Herrn dieheerde bewachen, sind sie in fortdauernder
Bewegung. Auf ihnen beruht das Heil und die Sicherheit
der Heerde. Nur durch sie wird dieselbe auf bestimmten
Plätzen zusammengehalten, oder wenn es nöthig ist, nach
andern geführt; nur durch sie treibt man die Wölfe, die
fürchterlichsten Feinde der Lappen, von denrennthieren
zurück. Das furchtsame Rennthier läuft erschrocken in
der Wildniss umher, wenn sich der Wolf nähert; die
Hunde dagegen bellen und klaffen die Heerde in die Enge
zusammen, und so wagt der Wolf nicht leicht einen An-
griff. Wenn daher für den Lappen das Rennthier ist, was
für den Bauer der Acker; so ist, was für diesen der Pflug,
für den Lappen der Hund. Kömmt er aber nun ermüdet
in die Gamme zurück, so wird er auch immer willig
sein Rennthierfleisch und seine Suppe mit dem Hunde
theilen, aber schwerlich mit Vater oder Bruder.
Es ist ein neuer und schöner Anblick, wenn des
Abends die Heerde sich des Melkens wegen um die Gam-
me versammelt. Auf allen Hügeln bis fern hin ist plötz-
lich Alles voll Leben und Bewegung. Die geschäftigen
Hunde klaffen überall und bringen die Masse näher und
näher; und die Rennthiere springen und laufen, stehen,
springen auf’s Neue in unbeschreiblichermannigfaltigkeit
der Bewegungen. Wenn das fressende Thier, durch den
Hund erschreckt, den Kopf hebt und das grosse stolze Ge-
weih nun hoch in die Luft steht, wie schön und wie herr-
lich! Und wenn die Gestalt nun über den Boden hin-
läuft, wie schwebend und leicht! Man hört nie den
Fuss auf dem Boden, sondern nur das ewige Knistern
in den Kniekehlen, wie von überschlagenden elektri-
schen Funken — ein sonderbares und weit hörbares
Geräusch von so vielen Rennthieren zugleich. Und wenn
dann alle drei oder vier Hundert endlich die Gamme
erreicht haben, sie nun stehen oder ruhen oder vertrau-
lich von einem zum andern hinlaufen, die Geweihe gegen
einander versuchen oder in Gruppen ein Moosfeld umge-