1900 -
Stuttgart
: Daser
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Römisch-Katholisch
293
das militärische Schauspiel mit seinem Glanz und seinem Schrecken
war von mächtigem Eindrucke.
Aber schon damals erfüllte alles die unbestimmte Erwartung
eines furchtbaren Verhängnisses. Einen Monat hatte der endlose
Durchzug gedauert, wie Heuschrecken hatten die Fremden von Kol-
berg bis Breslau das Land aufgezehrt. Denn schon im Jahre 1811
war eine Mißernte gewesen, kaum hatten die Landleute Samen-
haber erspart, den fraßen 1812 die frauzösischen Kriegspferde, sie
fraßen den letzten Halm Heu, das letzte Bund Stroh. Und gröb-
lich, wie die Tiere, verzehrten die Menschen. Vom Marschall bis
zum gemeinen Franzosen waren sie nicht zu sättigen. Den fettesten
Rahm tranken sie aus Krügen, auch der Gemeine bis zum Trommler
hatte getobt, wenn er des Mittags nicht zwei Gänge erhielt, wie
Wahnsinnige hatten sie gegessen. Aber schon damals ahnte das
Volk, daß die Frevelhaften so nicht zurückkehren würden. Und
die Franzosen sagten das selbst.
Aber was jetzt zurückkehrte, das kam kläglicher, als einer im
Volk geträumt hatte. Es war eine Herde armer Sünder, die ihren
letzten Gang angetreten hatten; es waren wandelnde Leichen. Un-
geordnete Haufen, aus allen Truppengattungen und Nationen
zusammengesetzt, ohne Kommandoruf und Trommel, lautlos wie ein
Totenzug nahten sie der Stadt. Alle waren unbewaffnet, keiner
beritten, keiner in vollständiger Montur, die Bekleidung zerlumpt
und unsauber, aus den Kleidungsstücken der Bauern und ihrer
Frauen ergänzt. Was jeder gefunden, hatte er an Kopf und
Schulter gehängt, um eine Hülle gegen die markzerstörende Kälte
zu haben: alte Säcke, zerrissene Pferdedecken, Teppiche, Tücher,
frisch abgezogne Häute von Katzen und Hunden; man sah Grena-
diere in großen Schafpelzen, Kürassiere, die Weiberröcke als Mäntel
trugen. Nur wenige hatten Helm und Tschako, jede Art Kopftracht,
bunte und weiße Nachtmützen, wie sie der Bauer trug, tief in das
Gesicht gezogen, ein Tuch oder ein Stück Pelz zum Schutz der
Ohren darüber geknüpft, Tücher auch über den untern Teil des
Gesichts. Und doch waren der Mehrzahl Ohren und Nasen erfroren
und feuerrot; erloschen lagen die dunkeln Augen in ihren Höhlen.
Selten trug einer Schuh oder Stiefel: glücklich war, wer in Filzsocken
oder in weiten Pelzschuhen den elenden Marsch machen konnte; vielen
waren die Füße mit Stroh umwickelt, mit Decken, Lappen, dem
Fell der Tornister oder dem Filz von alten Hüten. Alle wankten
auf Stöcke gestützt, lahm und hinkend. Auch die Garden unter-
schieden sich von den übrigen wenig; ihre Mäntel waren verbrannt;
nur die Bärenmützen gaben ihnen noch ein militärisches Ansehen.
So schlichen sie daher, Offiziere und Soldaten durcheinander,
mit gesenktem Haupt, in dumpfer Betäubung. Alle waren durch
Hunger und Frost und unsägliches Elend zu Schreckensgestalten
geworden.