1873 -
Berlin
: Stubenrauch
- Autor: Wetzel, Friedrich, Richter, Carl, Menges, Heinrich, Menzel, J.
- Auflagennummer (WdK): 32
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
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an 300 arme Kinder. Als nun das Haus gar zu voll war,
schaffte Johannes Rath. Für 5000 Thaler erstand er käuflich
den Lutherhof. Da wurde also gesackt und gepackt und geschleppi
und getragen; und weil viele Hände bald ein Ende machen, so
währte es nicht lange, bis alle Habseligkeiten ins Luthergäßchen
hinübergeschafft und das ganze Nest mit den 300 Küchlein in den
altergrauen Mauern geborgen war. Da nun aber der Lurherhof
gar sehr wüste und leer war, Maurer und Zimmerleute auch nicht
konnten gedungen werden, mußten die Jungen selber sehen, wie
sie fertig wiirden. Und damit sing das Mauern, Zimmern und
Hobeln an, früh und spät und spät und früh, und mit solcher
Fröhlichkeit, mit Lust und Gesang, daß, wenn Luther noch ein-
mal in das alte Haus getreten wäre, er vor Freuden in die Hände
geklatscht und sicherlich fix mit Hand angelegt hätte. Mancher
Freund, dem die Sache gefiel, gab zu dem Ban willig sein Scherf-
lein, und als vier Sommer ins Land gegangen waren, war aus
dem alten Lutherhofe ein neuer Lutherhof geboren; aber der alte
Luthergeist waltete noch darin, gläubig und kräftig. Wie zum
Schluß Alles fertig dastand, fest und sauber, wie aus dem Ei ge-
schalt: —- das war eine Freude! denn kein Ziegel auf dem Dach,
den nicht die Knaben gelegt, und kein Stuhl und Tisch, den
nicht die Knaben bereitet, und kein Schloß an der Thür, das
nicht die Knaben gefügt hätten, die armen, aus Sünden geret-
teten Knaben.
Diese stillen Mauern sind die Gebnrtsstätte für viel reiches
Leben geworden. Wer jetzt durchs weimarische Land ginge, der
würde noch manchen Handwerksmeister und manchen gottesfürch-
tigen Schullehrer finden, der einst auf dem Lutherhofe hat beten
und arbeiten gelernt, und dem der Name Johannes Falk in
dankbarem Gedächtniß steht. Ja, die Kunde dieses durch die
That sich bewährenden, dienenden und rettenden Glaubens wurde
wie vom Winde in die Nähe und Ferne getragen, und aus dem
edlen Samen zum Heile der armen, verkümmernden Jugend ist
viel edle Frucht erwachsen. In Deutschland nicht nur, sondern
in Frankreich, England und Rußland wurden Anstalten gegrün-
det, die wie jene die Verlorenen sammelten, und in denen das
verachtete Kreuz des Herrn wieder aufgerichtet ward.
Gott hatte seinem Knechte noch eine Prüfungszelt vorbehal-
ten. Eine schwere Krankheit warf ihn darnieder; auf langwie-
rigem Siechbette, geplagt von unsäglichen Schmerzen, bereitete
er sich zum seligen Sterben. Und am 14. Februar des Jahres
1826, Abends 7 Uhr, ist Johannes Falk in einem Alter von 56
Jahren, den Namen seines Heilandes auf den Lippen, sanft und
selig entschlafen.