1883 -
Halle a.S.
: Buchh. des Waisenhauses
- Autor: Sach, August, Keck, Heinrich, Johansen, Christian, Meyn, Ludwig
- Auflagennummer (WdK): 9
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Evangelisch-Lutherisch
27. Das Jlfetfyal.
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Allerliebst schossen die goldenen Sonnenlichter durch das dichte Tannen-
grün. Eine natürliche Treppe bildeten die Baumwurzeln. Überall schwellende
Moosbänke; denn die Steine sind sußhoch von den schönsten Moosarten wie
mit hellgrünen Sammetpolstern, bewachsen. Liebliche Kühle und träumerisches
Quellengemurmel. Hier und da sieht man, wie das Wasser unter den Stei-
nen silberhell hinrieselt und die nackten Baumwurzeln und Fasern bespült.
Wenn man sich nach diesem Treiben hinabbeugt, so belauscht man gleichsam
die geheime Bildungsgeschichte der Pflanzen und das ruhige Herzklopfen des
Berges. An manchen Orten sprudelt das Wasser aus den Steinen und Wur-
zeln stärker hervor und bildet kleine Wasserfälle. Da läßt sich's gut sitzen.
Es murmelt und rauscht so wunderbar, die Vögel singen abgebrochene Sehn-
suchtslaute, die Bäume flüstern wie mit tausend Zungen, wie mit tausend
Augen schauen uns an die seltsamen Bergblumen, sie strecken nach uns ans
die wundersamen breiten, drollig gezackten Blätter, spielend flimmern hin
und her die lustigen Sonnenstrahlen, die sinnigen Kräutlein erzählen sich
grüne Märchen, es ist alles wie verzaubert, es wird immer heimlicher und
heimlicher.
Je höher man den Berg hinaufsteigt, desto kürzer, zwerghafter werden
die Tannen, sie scheinen immer mehr und mehr zusammenzuschrmnpfen, bis nur
Heidelbeer- und Rotbeersträncher und Bergkräuter übrig bleiben. Da wird es
auch schon fühlbar kälter. Die wunderlichen Gruppen der Granitblöcke werden
hier erst recht sichtbar; diese sind oft von erstaunlicher Größe. Das mögen wohl
die Spielbälle sein, die sich die bösen Geister einander zuwerfen in der Walpur-
gisnacht, wenn hier die Hepen auf Besenstielen und Mistgabeln einhergeritten
kommen. In der That, wenn man die obere Hälfte des Brockens besteigt, kann
man sich nicht erwehren, an die ergötzlichen Blocksberggeschichten zu denken.
Es ist ein äußerst erschöpfender Weg, und ich war froh, als ich endlich das
langersehnte Brockenhaus zu Gesicht bekam.
Wir besteigen den Brockenturm und bewundern die unermeßliche Aussicht.
Über alles in weitem Umkreise erhaben dastehend, durch nichts im Sehen gehindert,
beherrscht man eine ungeheure Fläche Land und bedeutende Massen von Gebirgen,
die gleich einer Landkarte zu unsern Füßen ausgebreitet liegen, ein großartiges
Rundgemälde bildend. Mehr als 300 Städte und Dörfer sind teils mit, teils
ohne Fernrohr zu erkennen. Wir nennen nur Wernigerode, Halber-
stadt, Quedlinburg, Magdeburg, Burg, Zerbst, Bernburg, Köthen,
Ballenstädt, Klausthal, Cellerfeld, Hildesheim, Braunschweig,
Wolfenbüttel und Helmstädt. Auch die Elbe, der Petersberg bei Halle,
die Kyffhäuser Burg, der Possenturm bei Sondershausen, der Etters-
berg bei Weimar, der Dom und der Petersberg bei Erfurt, die Wach-
senburg bei Arnstadt, der Seeberg bei Gotha, das Schloß in Gotha, der
Jnselsberg mit dem ganzen Thüringer Walde, der Meißner in Kurhessen
und der Herkules auf der Wilhelmshöhe bei Kassel sind sichtbar.
27. Das Jlselhal.
Je tiefer wir vom Brocken hinabstiegen, desto lieblicher rauschten die unterirdi-
schen Gewässer; nur hier und da unter Gestein und Gestrüppe blickte es her-
vor und schien heimlich zu lauschen, ob es ans Licht treten dürfe, und endlich