1888 -
Halle a.S.
: Buchh. des Waisenhauses
- Hrsg.: Keck, Heinrich, Sach, August, Johansen, Christian, Meyn, Ludwig
- Auflagennummer (WdK): 11
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Evangelisch-Lutherisch
98. vom Väumlein, das andere Blatter hat gewollt.
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nicht mehr gebrauchen; aber da ihr Häuschen auf dem Deiche stand,
konnte sie von ihrem Bette aus aufs Eis hinaussehen und die Freude
sich betrachten. Wie es nun gegen den Abend kam, da gewahrte sie,
indem sie so auf die See hinaussah, im Westen ein kleines, weifses
Wölkchen, das eben über dem fernen Horizont aufstieg. Gleich befiel
sie eine unendliche Angst; sie war mit ihrem Manne zur See gewesen
und verstand sich recht auf Wind und Wetter. Sie rechnete nach:
„In einer kleinen Stunde wird die Flut da sein, dann ein Sturm los-
brechen, und alle sind verloren!“ Da rief und jammerte sie, so laut
als sie konnte; aber niemand war in ihrem Hause, und die Nachbarn
waren alle auf dem Eise; niemand hörte sie. Immer grösser ward
unterdessen die Wolke und allmählich immer schwärzer, noch einige
Minuten, und die Flut musste da sein, der Sturm losbrechen. Da rafft
sie all ihr bisschen Kraft zusammen und kriecht auf Händen und Füssen
aus dem Bette zum Ofen; glücklich findet sie noch einen Brand, schleu-
dert ihn ins Stroh ihres Bettes und eilt, so schnell wie sie kann, hinaus,
sich in Sicherheit zu bringen. Das Häuschen stand nun augenblicklich
in hellen Flammen, und wie der Feuerschein vom Eise aus gesehen
ward, stürzte alles in wilder Hast dem Strande zu. Schon sprang der
Wind auf und fegte den Staub auf dem Eise vor ihnen her; der Him-
mel ward dunkel: das Eis fing an zu knarren und zu schwanken, der
Wind wuchs zum Sturm, und als die letzten den Fuss aufs feste Land
setzten, brach die Decke und die Flut wogte an den Strand. So
rettete die arme Frau die ganze Stadt und gab ihr Hab und Gut daran
zu deren Heil und Rettung. Müiienhoff.
98. Vom Bäumlein, das
1. Es ist ein Bäumlein gestanden im
Wald
in gutem und schlechtem Wetter:
das hat von unten bis oben
nur Nadeln gehabt statt Blätter;
die Nadeln, die haben gestochen,
das Bäumlein, das hat gesprochen:
2. „Alle meine Kameraden
haben schöne Blätter an,
und ich habe nur Nadeln,
niemand rührt mich an;
dürft' ich wünschen, wie ich wollt',
wünscht' ich mir Blätter von lauter
Gold."
3. Wie's Nacht ist, schläft das Bäum-
lein ein,
und früh ist's aufgewacht;
da hatt' es goldene Blätter sein,
andere Blätter hat gewollt.
das war eine Pracht!
Das Bäumlein spricht: „Nun bin ich
stolz;
goldene Blätter hat kein Baum im
Holz."
4. Aber wie es Abend ward,
ging der Jude durch den Wald,
mit großem Sack und großem Bart,
der sieht die goldenen Blätter bald;
er steckt sie ein, geht eilends fort,
und läßt das leere Bäumlein dort.
5. Das Bäumlein spricht mit Grämen:
„Die goldnen Blättlein dauern mich;
ich muß vor den andern mich schämen,
sie tragen so schönes Laub an sich;
dürft' ich mir wünschen noch etwas,
so wiinscht' ich mir Blätter von hel-
lem Glas."