Anfrage in Hauptansicht öffnen

Dokumente für Auswahl

Sortiert nach: Relevanz zur Anfrage

1. Vaterländisches Lesebuch für die mehrklassige evangelische Volksschule Norddeutschlands - S. 48

1888 - Halle a.S. : Buchh. des Waisenhauses
48 103. Treue Freundschaft. noch miteinander bis nach Warschau, der Hauptstadt in Polen, wo der arme Schmied Arbeit bekam, der Schneider aber nicht. Beide Freunde mussten sich also hier trennen. Als der Schneider wieder aus- wanderte, gab ihm der Schmied eine Stunde weit das Geleite, und unter Yergiessung häufiger Thränen schieden sie, als wenn sie leibliche Brüder gewesen wären, voneinander, ohne eben hoffen zu können, dass sie sich in dieser Welt jemals wiedersehen würden. Der Schneider wanderte darauf durch Böhmen, Sachsen, Hessen, Lothringen bis nach Frankreich, wo er beinahe 10 Jahre blieb und bald in dieser, bald in jener Stadt arbeitete, ohne irgendwo sein Glück zu finden. Endlich kehrte er nach Deutschland zurück und geriet in Frankfurt am Main unter die Werber, welche ihn überredeten, kaiser- liche Dienste zu nehmen, und ihn als Rekruten nach Wien transpor- tierten. Da er aber schwächlich und fast beständig krank war, liess man ihn nach einigen Jahren wieder laufen, wohin er wollte. Fast nackt und bloss kam er nach Sachsen, um daselbst wieder Arbeit zu suchen; allein da ihn in seinem elenden Anzuge niemand zur Arbeit annehmen wollte, so musste er endlich betteln. Eines Abends spät sprach er in einem Dorfe (es war gerade an einem Sonnabend) bei einer Schmiede auch um einen Zehrpfennig an. Da dünkte dem Meister, welcher mit vier Gesellen vor der Esse arbeitete, dass die Stimme des Ansprechenden ihm sehr bekannt sei. Er nahm die Hängelampe in die Hand, schaute dem Bettler ins Gesicht, und — „Je Bruder! bist du’s oder bist du’s nicht?“ riefen beide fast zu gleicher Zeit; und in der That waren es die Kameraden, die seit der Trennung in Warschau nichts weiter voneinander gehört hatten. Der Schmied, welcher unter- dessen in dieser Schmiede in Arbeit gestanden und durch die Heirat der Witwe, welcher sie gehörte, wohlhabend geworden war, war ganz ausser sich vor Freuden. Er herzte und küsste den Schneider und schämte sich seiner nicht, obgleich er ein zerlumpter Bettler war. Er führte ihn mit lautem Jubel in seine Stube, drückte ihn in den Grofs- vaterstuhl am Ofen nieder, sprang auf einem Beine, wie ein Knabe, und alle seine Hausgenossen sperrten vor Verwunderung die Augen weit auf. „Lene“, sprach er zu seiner Frau, „geschwind springe hinauf und hole ein feines Hemd und meinen Sonntagsstaat herunter, dass der gute Freund da sich umkleiden kann!“ Der Schneider wollte allerlei dagegen einwenden, aber der Meister hielt ihm den Mund zu und sagte: „Schweig’ und sprich mir kein Wort dagegen! Du hast’s wohl um mich verdient, dass ich mein bisschen Hab und Gut mit dir teile.“ Es half nichts: der Schneider musste sich putzen und aus einer langen Pfeife rauchen. Der Meister gebot ihm, sich gerade so zu pflegen, als ob er in seinem eigenen Hause wäre, und nachdem er in möglich- ster Eile sein Tagewerk vollends geendet hatte, setzte er sich mit ihm zu Tische und liess alle seine Leute hereinkommen, dass sie den Frem- den nun recht genau besehen mussten. Dabei erzählte er ihnen denn, wer der Fremde eigentlich sei, und was es mit ihrer beiderseitigen
   bis 1 von 1
1 Seiten  
CSV-Datei Exportieren: von 1 Ergebnissen - Start bei:
Normalisierte Texte aller aktuellen Treffer