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1. Vaterländisches Lesebuch für die mehrklassige evangelische Volksschule Norddeutschlands - S. 89

1888 - Halle a.S. : Buchh. des Waisenhauses
89 148. Die Detglocke. dieser Mahnung, die nur ersonnen war, um mich länger zu martern; er legte das Pistol neben sich schußfertig auf den Boden. Dann griffen sie mich an, plünderten mich rein aus, zogen mir die ganze Uniform aus, ließen mir weder Hose noch Stiefel. Was ich unter ihren Händen litt, kann ich nicht beschreiben. Die körperlichen Schmerzen rechnete ich nicht, die sie mir mit ihrem rohen Angreifen bereiteten; aber die ohnmächtige Wut, der Ingrimm, der in mir kochte, das fühle ich jetzt noch, da meine Haare weiß geworden. „Wäre ich doch verblutet!" dachte ich damals. „Hätte doch die Kugel mein Herz getroffen! hätte doch die Kälte der Nacht mich getötet! Wäre ich doch vor Durst verschmachtet! Alles, alles! aber unter den Händen dieser Menschen elendiglich umkommen, erschossen wie ein toller Hund! Herr, mein Gott, erbarme dich mein!" Meine Peiniger waren fertig, und der erste hob wieder an: „So, mein Junge, nun mache dich reisefertig, viel Gepäck hast du nun nicht mehr mit- zunehmen auf den langen Weg, es wird dich nicht drücken." Damit langte er nach dem Pistol. In demselben Augenblick schallte tief imb ernst von dem Turm einer Dorfkirche durch die stille Morgenluft der Klang einer Betglocke. Die Räuber zogen augenblicklich ihre Mützen herunter, wie es in der Gegend Brauch war, hielten sie vors Gesicht und bewegten wie betend ihre Lippen. Langsam und feierlich zogen dreimal drei Schläge über die weite Ebene. Die Betglocke läutete auch mir durch die Seele, und mein lebenlang habe ich ihre Schläge nicht wieder vergessen. Wie ich später mich viel tau- sendmal an den Glockenstrang gehängt, so hing ich mich jetzt mit meiner Seele in heißester Angst und Inbrunst dran, und schrie aus tiefer Not hinauf in den Himmel: „Herr Gott, sei mir armen Sünder gnädig! Dein ist ja das Reich. Errette mich aus ihren Händen! Dein ist ja die Kraft! Und soll's nicht sein, so erbarm' dich meiner armen Seele und mach' mich selig! Dein ist ja die Herr- lichkeit!" Da tönten die drei letzten raschen Schläge wie ein dreimaliges Amen über mein Haupt hin. Ich schloß die Augen und erwartete den tödlichen Schuß. Aber sowie der letzte Klang der Betglocke angeschlagen, tönte eine lustige Trompetenfanfare aus einem nahen Gehölz hervor. Die Wirkung auf die Räuber war eine blitzartig schnelle. Sie ließen sich keine Zeit ihren Raub mitzunehmen, der beladene Karren blieb stehen; und wie Katzen, wenn sie von Hunden gejagt werden, so flogen, sprangen, rannten sie dahin, sich fast auf den Boden herabschmiegend und duckend. Denn es war eine Reiterschar, die herbeikam, und die Elenden wußten's nur zu wohl: wenn auch nur ein einziges scharfes Soldatenauge sie erblickt hätte, so wäre ihnen in der nächsten Minute der Tod am ersten besten Baume gewiß gewesen. Die Trompetenklünge, die sich so unmittelbar an die Betglocke anschlossen, vergess' ich auch nicht wieder. Wahrhaftig, es war mir, als bliesen's die lieben, heiligen Engel vom Himmel herab als Antwort auf mein Flehen: „Ja, ja, es soll also geschehen!" Jene Reiter waren freilich Feinde, Österreicher, aber doch prächtige, liebe .Kerle. Sie kamen dicht an mir vorüber, sie bemerkten mich. Der Ofsizier, der sie führte, stieg ab, beugte sich zu mir und sagte: „Lebst du denn noch, mein Junge?" Dabei fiel sein Auge auf den Karren der Marodeure, und er biß die weißen Zähne unter dem schwarzen Schnurrbart zusammen, daß
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