1888 -
Halle a.S.
: Buchh. des Waisenhauses
- Hrsg.: Keck, Heinrich, Sach, August, Johansen, Christian, Meyn, Ludwig
- Auflagennummer (WdK): 11
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Evangelisch-Lutherisch
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57. Die Lüneburger Leide.
gänzlich vergessen, daß wir in der Heide sind. Nicht weniger als 30 Geviert-
Meilen sind mit Wald bedeckt; einzelne Forsten haben eine beträchtliche Größe.
Den Hauptbestand der Wälder bildet die Kiefer; aber wo Höhen oder Niede-
rungen bessern Boden tragen, da ladet uns der Schatten glattstämmiger Buchen
und schöner, kräftiger Eichen ein.
Von Hannovers berühmten Bäumen steht eine gute Anzahl in der Heide.
In früherer Zeit ist der Waldreichtum noch größer gewesen, wie das die in
den Mooren liegenden Kiefern und die an vielen Stellen der Heide stehenden
verkrüppelten Eichen beweisen. — Einen reichen Erwerb gewährt an vielen
Stellen das Sammeln der Waldbeeren. 1862 wurden allein auf der Eisen-
bahn 1563 Zentner Heidelbeeren, 2752 Zentner Kronsbeeren und 206 Zentner
Wachholderbeeren aus dem Allergebiet nach Harburg befördert; 10000 Hunten
sendeten die Forstbezirke Fallingbostel und Bergen über Soltan dahin.
In den dünn bevölkerten Gegenden, wo nicht 1000 Menschen auf einer
Quadrat-Meile leben, zählt man 6oo Bienenstöcke und 4—5000 Schafe auf
demselben Raume. Die Pferde und Kühe der Heide sind durchweg kleiner als
die der Marsch; indes haben manche Dörfer und Güter, welche bessern Boden
besitzen oder Koppelwirtschaft treiben, einen trefflichen „Viehstapel" auszu-
weisen. Viele Bienenzüchter oder Imker ziehen im Frühjahre in die Marsch,
wo Raps, Klee, Bohnen, Linden- und andere Blüten den fleißigen Tieren
eine reiche Weide gewähren; nachher wandern sie zu den Bnchweizenfeldern und
zuletzt, wenn die Heide sich weit und breit mit den roten Glöckchen behängt
hat, leistet der Imker dem Schäfer Gesellschaft, der hinter den Schnucken seine
„Hasen" (Strümpfe) strickt. —
Wer ein Auge für den Reichtum hat, den die Natur im Kleinen ent-
faltet, findet in Wald und Heide, in Bruch und Moor manches Gewächs und
manches Tier, das er nicht zu finden glaubte. Auf dürrem Boden und an
Birkenstämmen gedeiht die graue Renntierflechte; unter der Heide rankt der
Bärlapp („Krähenfuß") am Boden fort; wo modernde Moose und Binsen dem
Torflager neue Schichten zuführen, blüht der tiefblaue Enzian, der beperlte
Sonnentau, das seidenhaarige Wollgras und der duftige Gagel oder Porst.
An den Bächen schaukeln sich lange, fadenförmige Flußranunkeln; zwischen dem
Schilf ruhiger Teiche wiegen sich gelbe Schwertlilien und rote Doldenlilien;
weiße Seerosen und gelbe Teichrosen tauchen aus der Tiefe auf. Die Wiesen
schmücken sich mit Kuckucks-Blumen und Knabenkraut, mit Schaumkraut und
gelben Ranunkeln und mit Doldengewächsen aller Art. — Zahlreiche Spinnen
hängen ihr Gewebe an Heide, Halm und Busch; auf langen, leichten „Som-
merfüden" fahren einige Arten im Herbst durch die Luft. Ameisenlöwen lauern
in ihren Sandgruben auf Beute; Schlupfwespen suchen lebende und tote Tiere,
um ihre Eier hineinzulegen. Leichte Wasserjungfern stürmen durch die Luft
oder wiegen sich ruhig in der Sonne; Millionen von Larven berauben die
Nadelwälder ihres Schmuckes oder graben sich Gänge durch das Holz der
Stämme und das Fleisch der Pilze. In Erdlöchern zirpen scheue Grillen;
Heuschrecken hüpfen auf Wiese und Anger; Käfer, zum Teil golden glänzend,
suchen ihre Wege unter Halmen und Moos; Schmetterlinge eilen von Blüte
zu Blüte, und in der Dämmerung suchen sich Motten und Eulen ihre Nahrung.