1888 -
Halle a.S.
: Buchh. des Waisenhauses
- Hrsg.: Keck, Heinrich, Sach, August, Johansen, Christian, Meyn, Ludwig
- Auflagennummer (WdK): 11
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Evangelisch-Lutherisch
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76. Neapel und der Vesuv.
naturgemäß; an der Verfassung, an dem geselligen Zustande, an den Sitten des
Auslandes wird er stets etwas auszusetzen finden; er kann sie nicht anders als
mit mitleidigem oder verachtungsvollem Blicke betrachten; und er glaubt gern,
daß außer dem englischen Volke, welches ihm allein das Mannesalter erreicht zu
haben scheint, alle andern Völker noch Kinder sind. Die Völker, welche nur
Eitelkeit besitzen, fassen eine hohe Meinung von sich; die Nationen, welche stolz
sind, zeigen sich viel mehr geneigt, eine schlechte Meinung von andern zu fassen.
Das unterscheidet England hauptsächlich von allen anderen Ländern; diese Verach-
tung des Freniden ist das Gefühl, welches die Gebildeten nur mit Mühe unter
den hergebrachten Formen der Höflichkeit verhüllen können und welches die untern
Klassen nackt aussprechen. Dieses eigentümliche Gepräge des Geistes paßt für
ein Volk, welches nach Größe strebt; denn die Meinung, welche man von sich
hat, ist ein Teil der Kraft, und die unternehmendsten Völker sind immer die-
jenigen, welche sich eine zu große Bedeutung zuschreiben. Aber im Zustande
des Friedens wird es zu einem Hindernis der Annäherung und der Vereinigung,
denn von diesem Gesichtspunkte aus kann nian weder andere Länder noch sein
eigenes Vaterland begreifen. Die Engländer bewundern sich zu sehr, um über
sich urteilen zu können, und achten das Ausland zu wenig, um eine richtige
Anschauung von ihm zu haben; die Unparteilichkeit, dieses wesentliche Grund-
erfordernis jeder Untersuchung, fehlt ihnen. v. Reden.
76. Neapel und der Vesuv.
Süd-Italien ist unstreitig der fruchtbarste und gesegnetste Teil von ganz
Italien, darin die prächtige Stadt Neapel am Meere, mit dem Vesuv
in der Nähe. Die Lage ist reizend schön und wird nur von den Umgebungen
Konstantinopels übertrofsen. Der Himmel erscheint hier monatelang ununter-
brochen wolkenlos und so blau oder noch blauer, als bei uns in den schönsten
Frühlingstagen. Die Luft ist so rein, daß meilenweit entfernte Dörfer ganz
nahe erscheinen. Das südliche Meer ist dem nördlichen gegenüber ein anderes.
Wer je das Meer oder tiefe Seeen betrachtet hat, der weiß, wie sehr ihre
Schönheit von der Farbe der Luft abhängt, und wie ein grauer Himmel nur
immer aus ein graues Wasser niederscheint. Sobald man aber in Neapel sich
vom Ufer so weit entfernt hat, daß der Grund nicht mehr durchscheint, ist die
See, besonders im Schatten des Fahrzeugs, vom schönsten, reinsten Jndigoblau;
doch wechseln die Farben beständig in den mannigfaltigsten Abstufungen. Über-
blickt man vom hohen Ufer die Wasserfläche, und es naht ein Wind vom Meer
her, so verdunkelt sich das Gewässer in weiter Ferne; ein breiter Schatten rückt
allniählich näher. Der glatte, silberne Spiegel gerät in schwankende Bewegung;
kleine Wellen erheben sich und schlagen plätschernd, wie zum Spiel, ans Ufer.
Aber schon folgen größere; lange Bänke griiner Wogen kommen brüllend; ihre
weißen Häupter und Kämme erheben sich immer wilder; donnernd prallen sie
an den Strand und brechen zurückschmetternd die nächste Linie der andringenden
Wasserhügel. Herrlich ist auch der hüpfende Sonnenglanz auf dem mäßig beweg-
ten Meer. Geht die Sonne unter, so spielen auf dem Meere alle Farben des
Regenbogens. Nachts, besonders im Sommer und nach Gewittern, schimmern
die Wellen in mattem Lichte; um des Fischers Ruder sprühen Funken, und die