1880 -
Sondershausen
: Eupel
- Hrsg.: Helmrich, Karl, ,
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Evangelisch-Lutherisch
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Darauf sah er sein Haus an und ging in sein Kämmerlein und sprach:
„Alles steht bei mir fest und unversehrt!" und legte dafür in den Gottes-
kasten. Also auch, wenn ihm kostbarer Wein und schönes Geräte geboten
wurde, so kaufte er davon, jedoch mäßig, so daß sie sein Haus zierten und
seine Freunde erfreuten, und ging alsdann in sein Kämmerlein und sprach:
„Solches hast du dir kaufen und deinen Vorrat mehren können!" und legte
in den Gotteskasten; dazu sendete er gern von dem köstlichen Wein, so ein
Kranker dessen bedurfte. Also that er sein Lebenlang.
Als er nun sterben sollte, da klagten und weinten die Armen; die
Witwen und Waisen sprachen: „Wer wird unser sich erbarmen, wenn
Benediktus von uns scheidet?" Er aber sprach: „Ein guter Hausvater
sorget, daß auch dann, wenn er nicht daheim ist, den Kindlein nichts ge-
breche. ^o nehmet den Gotteskasten mit allem, was darinnen ist. Er
gehört den Armen, den Witwen und Waisen; theilet davon aus und ver-
waltet es wohl und weislich." — Darauf starb er, und es geschah, wie er
gesagt hatte.
Also bestehet der Gotteskasten seit hundert Jahren zum Troste der
Bedürftigen, und des Mannes Andenken bleibt im Segen.
Krummacher.
164. Das Vogelgeschrei.
Der reiche Kaufmann Sondersleben in Frankfurt am Main hielt die
Gebote des Herrn, seines Gottes. Er hatte sie nicht bloß in seiner Bibel
stehen, sondern sie waren ihm auch tief ins Herz geschrieben. Aber er
achtete auf Vogelgeschrei wie der König Manasse von Juda, und doch anders
als dieser, nämlich also:
Wenn im Spätherbst die ersten Schneegänse dahin zogen und den
Winter ansagten, so ging er in sein großes Kornhaus. Darin lagen große
Haufen von Roggen und Weizen aufgeschüttet: von diesem Getreide maß
er viele Scheffel ab und schickte sie dem Bäcker, der neben der Domkirche
wohnte. Der buk dann Brot daraus. Den andern Tag kamen arme
Leute zum Bäcker und holten das Brot ab; aber sie gaben kein Geld dafür,
sondern sie zeigten nur einen Schein von dem Kaufherrn vor und empfingen
dann, was ans dem Blättlein geschrieben stand.
In Frankfurt waren drei Schulen und darin viele Kinder reicher und
armer Leute durch einander. Der Lehrer ließ die Kinder der reichen Leute
vormittags um die dritte Stunde heim; die armen Kinder aber blieben
auf ihren Bänken sitzen und warteten, bis der Knecht des Bäckers kam.
Der trug einen großen Brotkorb auf dem Kopfe und gab einem jeglichen
Kinde zwei oder drei Semmeln, außen so gelb wie eine Citrone und innen
so weiß und locker wie Baumwolle. Dies Weißbrot war auch von dem
Kaufherrn.
So fuhr der Kaufherr fort zu thun, bis das Schwalbenpaar, welches
auf seiner Hausflur nistete, wieder da war und ihm ansagte, daß alle
Schneegänse wieder heimgegangen wären.
Nun hätte der Schaffner des Kaufmanns längst gern wissen mögen,
warum sein Herr das Kornhaus öffnete, wenn die Schneegünse kamen, und
es wieder schloß, wenn sie gingen. Deshalb fragte er ihn eines Abends
darum, als sein Herr fröhlich war in seinem Garten, der unten vor dem