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1. Vaterländisches Lesebuch für die mittleren und oberen Klassen evangelischer Volksschulen - S. 145

1880 - Sondershausen : Eupel
145 Unhold sechzehn tiefe Wunden bei, so daß ihm das Blut vom Leibe troff. Da flehte Kuperan um sein Leben, und Siegfried sagte: „Gern will ich es dir schenken, wenn du mir schwörst, mir die Jungfrau gewinnen zu helfen." Das schwur der Riese, und so war zwischen beiden Friede gemacht; Sieg- fried riß sich selbst sein Untergewand vom Leibe und verband mitleidig seines Feindes Wunden damit. 4. Wie der Riese wegen seiner Treulosigkeit getödtet ward. Als der siegreiche Held auf den Felsen hinauf eilte, um Kriemhild zu suchen, nahm der tückische Riese, der hinter ihm herging, die günstige Ge- legenheit wahr und schlug ihn unversehens mit einem Faustschlage zu Boden. Da lag der edle Siegfried betäubt unter seinem Schilde; rotes Blut quoll ihm aus Mund und Nase, und er schien todt zu sein. Ehe sein Feind ihn aber vollends mordete, sprang schnell der Zwerg Engel, der immer in der Nähe geblieben war, herbei und deckte über Siegfried eine Tarn- kappe, die die wunderbare Eigenschaft hatte, jeden, den sie umhüllte, unsicht- bar zu machen. Kuperan tobte vor Wut, daß sein Gegner verschwunden war, aber wie er auch von Baum zu Baum suchte, er vermochte ihn nicht wiederzufinden. Inzwischen suchte der gute Zwerg den bewußtlosen Helden-wieder zu beleben. Als er die Augen endlich wieder aufschlug und seinen Retter neben sich sah, sprach er: „Lohne dir Gott, du kleiner Mann, was du an mir gethan hast." — „Ja," erwiderte der Zwerg, „da hätte es dir schlimm ergehen können. Aber nun folge auch meinem Rat und gib es auf, die Jungfrau zu befreien." — Da sagte Siegfried: „Nimmermehr! Und wenn ich tausend Leben hätte, so wollte ich sie alle um die Jungfrau wagen." Sobald er sich also einigermaßen erholt hatte, warf er die Tarn- kappe fort und stürmte von neuem auf den Riesen ein. Wieder schlug er ihm recht tiefe Wunden, bis er um Gnade flehte. Wohl hätte der Treu- lose sie nicht verdient, aber Siegfried bedachte, daß er ohne ihn nicht an den Drachenstein gelangen könnte, und so schenkte er ihm abermals das Leben, jetzt aber war er vorsichtiger und ließ ihn vorangehen. So gelangten sie endlich an den Drachenstein. Ein unterirdischer Gang führte zu der Thür desselben; der Riese schloß sie auf, und Sieg- fried steckte den Schlüssel zu sich. Bald waren sie oben auf dem Felsen. Der Drache war zum Glück ausgeflogen, die Jungfrau aber erkannte den Helden und fing vor Freuden an zu weinen und sprach: „Willkommen, du edler Siegfried! Wie geht es meinem Vater und meiner Mutter zu Worms, und wie leben meine Brüder?" Siegfried erzählte ihr alles und daß er gekommen wäre, sie zu befreien. Indessen trat der Riese heran und sagte: „Hier in der Erde liegt ein Schwert, mit welchem allein es möglich ist, den Drachen zu bezwingen." Das war freilich Wahrheit, aber die Ab- sicht, die der Riese bei diesen Worten hatte, war eine schlimme. Denn als Siegfried sich bückte, um das Schwert in der Erde zu suchen, sprang jener herzu und versetzte ihm einen fürchterlichen Schlag in den Rücken. Zornig wandte sich der Held um, und nun begann ein Ringen der beiden, daß der Fels erhehte. 'L-iegfried riß dabei dem Riesen die alten Wunden mit Gewalt wieder auf, so daß ihm das Blut in Strömen herunterlief; endlich bat der Unhold wieder um Gnade, aber Siegfried rief: „Das kann Helmrich, Vaterland. Lesebuch. 10
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