1873 -
Essen
: Bädeker
- Autor: Haesters, Albert
- Hrsg.: ,
- Auflagennummer (WdK): 17
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule, Simultanschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten, Simultanschule
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
- Konfession (WdK): Konfessionell gemischt
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waren darüber unwillig. „Nicht doch," sagte Sokrates, „ihr würdet ja
nicht zürnen, wenn mir einer begegnete, der häßlicher wäre als ich. Warum
ereifert ihr euch also, daß dieser Mensch minder höflich ist als ich!"
Es war vorauszusehen, daß sich Sokrates durch seine ausgezeichnete
Weisheit und Tugend bei dem großen Haufen seiner verdorbenen Mit-
bürger, deren Sittenlosigkeit er mit Worten strafte, Haß und Neid zu-
ziehen mußte. Sie verläumdeten ihn also, verklagten ihn öffentlich,
er glaube nicht an die Götter der Vaterstadt, und die ungerechten Rich-
ter verurtheilten ihn zum Tode. Sokrates hörte sein Todesurtheil mit
der größten Ruhe. Er verzieh allen, die ihn verurtheilt hatten, und
freute sich, bald zu den Geistern der edlen Männer aus der Vorzeit
hinüber zu wandeln. Dann wurde er ins Gefängniß geführt. Seine
Schüler hatten den Gefängnißwärter bestochen, daß er die Thüre des
Kerkers offen ließe, damit ihr geliebter Lehrer sich durch die Flucht
retten könnte; er aber wies ihren Vorschlag zurück und trank den ihm
dargereichten Giftbecher — 400 v. Chr.
7. Demosthenes.
(Um 360 v. Chr.)
Durch oftmals wiederholte Streiche
Fällt auch zuletzt die stärkste Eiche.
Demosthenes war der größte Redner unter ^den Griechen. Er hatte seinen
Water verloren, als er kaum sieben Jahre alt war. Als Knabe hörte er einst
einen Redner und war ganz entzückt von der schönen Rede. Er faßte sogleich den
Entschluß, auch einmal ein solcher Redner zu werdm. Won der Zeit an nahm
er an keinem Spiele mehr Theil, sondern alle Zeit verwandte er auf Lesen, Schrei-
den und Sprechen. Als er nun erwachsen war und eine schöne Rede ausgear-
beitet hatte, hiüt er diese vor dem versammelten Wolke. Aber er wurde aus-
gep fiffen, und alle Mühe schien vergeblich gewesen zu sein. Betrübt schlich er nach
Hause. Ein Freund aber ermunterte ihn zu einem zweiten Versuche. Diesmal
arbeitete er viel sorgfältiger und übte die Rede geläufiger ein. Aber ach! er wurde
wieder ausgelacht; das Gesicht in seinen Mantel hüllend, ging er wie vernichtet
nach Hause. Darauf besuchte ihn ein anderer Freund und machte ihn aufmerksam
auf feine Fehler beim Reden. Demosthenes hatte aber als Redner drei Haupt-
fehler: erstlich sprach er zu leise, weil er eine schwache Brust hatte; dann sprach
er undeutlich, denn einige Laute konnte er gar nicht hervorbringen, z. B. das R;
endlich hatte er die üble Gewohnheit, daß er mit der Achsel zuckte, so oft er einen
Satz ausgesprochen hatte. Wie sollte er aber solchen Gebrechen abhelfen? De-
mosthenes verzweifelte nicht. Was der Mensch will, das kann er. Um seine
Brust zu stärken, ging er täglich die steilsten Berge hinan; oder er trat an das
User des Meeres, wo die Wogen ein großes Gebraust machten, und suchte mit
seiner Stimme das Getöse zu übertönen. Um das R und einige andere Laute
herauszubringen und der Zunge die rechte Lage zu geben, legte er kleine Steine
unter die Zunge, und so sprach er. Das häßliche Achselzucken sich abzugewöhnen,
hängte er ein Schwert über der zuckenden Achsel auf, welches ihn jedesmal ver-
wundete, wenn er in die Höhe fuhr. Dann ließ er sich die Haare kurz abscheeren,
damck er eine Zeitlang gar nicht ausgehen durfte, sondern alle Zeit auf seine
Kunst verwenden mußte. Nach solchen Vorbereitungen trat er endlich wieder auf
und hielt eine so schöne Rede, daß das griechische Volk ganz entzückt war und
seinen Ohren nicht trauen wollte. Demosthenes wurde nun mit Lob und Bei-
fallsbezeigungen überschüttet, und dadurch aufgemuntert, fuhr er nur noch emsiger
fort. Oft hat er mehr gewirkt, als der beste Feldherr! — Steter Tropfen
höhlt den Stein.