1. Sagen
- S. 18
1912 -
Berlin
: Oehmigke
- Autor: Nohl, Walther
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Regionen (OPAC): Brandenburg
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
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gangen und dadurch vor der Übrigen Schicksal bewahrt worden.
Als sie zurückkehrte und an Stelle des Dorfes einen vom Winde
gekräuselten See erblickte, glaubte sie, sich verirrt zu haben, und
durchkreuzte die Gegend nach allen Richtungen hin, bis sie einen
alten Mann traf, der mit ihr ging und bestätigte, daß hier kein
Irrtum möglich, sondern das Dorf in die Tiefe gefunken sei.
Wehklagend fiel sie auf dem danebenliegenden Hügel nieder. —
Als die bl aß gelben Lichtstrahlen der aufgehenden Sonne über
ihr Antlitz huschten, war es kalt wie Morgentau, und die sonst
purpurnen Lippen waren fahl wie Nebelstreifen.
Die naheliegenden Anwohner holten sie zur Bestattung. Da
bemerkte man an der Stelle, wo sie gesessen und geweint hatte
klares Wasser aus dem Berghang sickern und sich schließlich als
kleine München durch den tiefen Sand mühsam dem See zu-
arbeiten. Das waren ihre Tränen, die der Berg zurückgab und noch
gibt; denn noch jetzt schleichen im Hochsommer wie im Winter
verstohlene Tropfen über die sandige Wegstraße.
Später wollte man zu verschiedenen Malen Menschen-
stimmen unter dem Wasser gehört haben; aber immer noch war
keine bestimmte Nachricht zu erhalten, bis sich eines Tages fol-
gender Fall ereignete:
Zwei Fischern, die mit dem Ziehnetz (sackartiges Netz mit
zwei langen Seitenwänden) am Vormittag zu derselben Stunde,
da man den Wanderer aus dem Dorfe getrieben hatte, dort
fischen, bleibt plötzlich das Netz festsitzen, und alle Bemühungen,
es weiter zu schaffen, bleiben vergeblich. Darüber ärgerlich,
fängt der eine an zu fluchen. Kaum aber hat er einige Worte
gesprochen, als ihnen ein verworrenes Geschrei, ähnlich, wie
wenn Kinder einen Betrunkenen verhöhnen, entgegentönt; auch
bemerken sie int Sack des Netzes ein furchtbares Hin und Her,
so daß die Zugleinen zittern. Dann wird alles still, und das
Netz läßt sich federleicht an das Ufer ziehen, enthält aber zu ihrem
größten Erstaunen keinen einzigen Fisch.
Später soll der See lange unbefischt geblieben sein, was
den späteren Pächtern nicht unangenehm gewesen ist.
An dem Ufer nach Westen zu hat man Torf gestochen und
viele menschliche Skelette gefunden, was diese Sage wohl noch
befestigt hat.
Gustav Stimming („Der Bär").