1. Sagen
- S. 83
1912 -
Berlin
: Oehmigke
- Autor: Nohl, Walther
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Regionen (OPAC): Brandenburg
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
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guter Humor gewann die Oberhand, und sie nickte bejahend mit
dem Kopfe. Die Kleinen kehrten alsbald unter den Ofen zurück
und begannen ihr Fest. Aus der Kelleröffnung wurden Tischchen
heraufgebracht, andre deckten weiße Tücher darüber, Lichterchen
wurden aufgestellt, und ehe viele Minuten um waren, saßen die
Kleinen an ihren Tischen und ließen sicksts schmecken. Frau von
Beeren konnte die Züge der einzelnen nicht unterscheiden; aber
sie sah die lebhaften Bewegungen und erkannte deutlich, daß alle
sehr heiter waren. Nach dem Essen wurde getanzt. Eine leise
Musik, wie wenn Violinen im Traum gespielt würden, klang durch
das ganze Zimmer. Als der Tanz vorüber war, ordneten sich alle
wieder zu einem Zuge und erschienen abermals vor dem Bette
der jungen Frau. Sie dankten für freundliche Aufnahme, legten
ein Angebinde nieder und baten die Mutter, des Geschenkes
wohl acht zu haben: die Familie werde blühen, solange man das
Geschenk in Ehren halte, aber werde vergehen und verderben,
sobald man es mißachte. Dann kehrten sie unter den Ofen zurück;
die Lichterchen erloschen, und alles war wieder dunkel und still.
Frau von Beeren war unsicher, ob sie gewacht oder geträumt
hatte. Sie sah sich nach dem Angebinde um; es lag auf der Wiege
des Kindes. Es war eine kleine Bernsteinpuppe mit menschen-
ähnlichem Kopf, etwa zwei Zoll lang und der untere Teil in einen
Fischschwanz auslaufend. Dies Püppchen, das Leute, die zu
Anfang des vorigen Jahrhunderts lebten, noch gesehen haben
wollen, führte den Namen „Allerhühnchen" (Alräunchen) und
galt als Talisman der Familie. Es vererbte sich von Vater auf
Sohn und wurde ängstlich bewahrt und gehütet.
Einer der Nachkommen war „Geist von Beeren". Er küm-
merte sich wenig um das wunderliche Familienerbstück. Er liebte
nicht Sagen und Geschichten, Tand und Märchenschnack, und
ihm fehlte Pietät und der Sinn fürs Geheimnisvolle.
Allerhühnchen hatte lange im Schrank gelegen, ohne daß
seiner erwähnt worden wäre. Da führte das Weihnachtsfest
eine lustige Gesellschaft bei Geist von Beeren zusammen, und der
Zufall wollte, daß einer der Gäste vom „Allerhühnchen" sprach.
„Was ist es damit?" hieß es von allen Seiten, und kaum daß
die Frage gestellt worden war, so wurde auch schon die Geschichte
zum besten gegeben und das Allerhühnchen herbeigeholt. Geist
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