1. Sagen
- S. 91
1912 -
Berlin
: Oehmigke
- Autor: Nohl, Walther
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Regionen (OPAC): Brandenburg
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
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Priesters freute, der ihm einige Stunden so angenehm verbringen
half, sich mit ihm wie mit seinesgleichen unterhielt und so gar nichts
von Bekehrungseifer verspüren ließ. Als der Tuchmacher den Ge-
fangenen fo weit hatte, daß er sich mit ihm auch von allen möglichen
pfiffigen Gaunerstreichen erzählte, brachte er das Gespräch auch
einmal auf den Kirchenraub. Der Jude stutzte zwar, ging aber doch
darauf ein, verwickelte sich jedoch bald derart, daß der andere ihn
lachend fragen konnte, wie er es nur so geschickt angefangen habe,
alle Spuren so gut zu verbergen. Da ging der Gefangene wirklich
in die Falle und ließ sich abfragen, daß er unterwegs in der Richtung
auf Pritzwalk zu von einer großen Angst wegen der Hostie befallen
worden sei, und daß er, um sich von dieser Angst zu befreien, die
Hostie am Kreuzwege, wo der Galgen steht, vergraben und die
Stelle unter dem Galgen mit einem großen Stein zugedeckt habe.
Nun führte man den Juden vor das Tor hinaus und räderte
ihn. Die Hostie aber wurde unter dem großen Stein an der be-
zeichneten Stelle ausgegraben und mit großer Feierlichkeit in die
Kirche nach Pritzwalk gebracht. Sie war blutig, und wo sie ge-
legen hatte, war das Erdreich auch mit Blut getränkt. Dieses Erd-
reich wurde sorgfältig ausgehoben und ebenfalls als ein Heiligtum
verwahrt.
Nun wandte sich der Pfarrer von Pritzwalk an seinen Bischof
Heinrich von Havelberg, daß er seine Kirche bei den Christen als
heiligen Ort in Aufnahme bringen sollte; der Bischof zeigte sich
jedoch nicht besonders eifrig für die Sache. Da ritt er einmal von
seinem Schlosse in Wittstock nach Pritzwalk, denselben Weg, den
damals der Jude genommen hatte. Als er in die Nähe des Galgens
kam, wurde er plötzlich krank, so daß er von seinem Pferde herab-
gehoben werden mußte. Nun geriet er in große Herzensangst;
denn daß er gerade an dieser Stelle krank wurde, erkannte er als
ein Zeichen Gottes, und er gelobte sofort, das Heiligtum in Pritz-
walk zu besuchen, was er bis jetzt zu tun unterlassen hatte. Kaum
hatte er dies Gelübde getan, so fühlte er seine Krankheit schwinden.
Nun hatte er an sich selber die Wunderkraft des Heiligtums er-
fahren und zweifelte nicht länger daran. Tief ergriffen ging er nach
derstelle, wo die Hostie gelegen hatte. So wie er daselbst anlangte,
umleuchteten ihn himmlische Strahlen, und als er den Blick auf-
wärts richtete, sah er den Himmel offen und den Herrn selbst mit
seinen himmlischen Heerscharen. Nun rief er, zur Erde nieder-