1. Sagen
- S. 100
1912 -
Berlin
: Oehmigke
- Autor: Nohl, Walther
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Regionen (OPAC): Brandenburg
- Inhalt Raum/Thema: Heimatkunde
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tot geglaubt hatten, und die erste Frau nahm die mitgebrachte
zweite mit Freuden neben sich auf. Beide Frauen wurden die
besten, verträglichsten Freundinnen und blieben dies bis an ihr
seliges Ende. Das Bildnis der Türkin wird noch unter den Jagow-
schen Familiengemälden gezeigt, sie ist danach ganz ausnehmend
schön gewesen. Sie ist, wie man sagt, zu Großen-Garz begraben;
in dem Kirchengewölbe daselbst zeigt man noch ihren einbalsa-
mierten Körper. Auch zeigt man dort zwei Leichensteine, auf
welchen zwei weibliche Figuren ausgehauen sind; das sollen die
beiden Frauen dieses Ritters sein.
Der Ritter stiftete zum Andenken an seine glückliche Heim-
kehr auf den Grünen Donnerstag eine Armenspende, daß alle
Armen, soviel deren sich einfinden würden, auf dem Schlosse
mit Erbsen und Stockfisch, welche seine Familie bei seiner Rück-
kehr gegessen, gespeiset werden und ein Stück Speck und Brot
mit auf den Weg bekommen sollten. Noch vor nicht langen Jahren
war dieses Bettlerfest so besucht, daß an die fünfhundert Armen
dahin wallfahrteten. I. D. H. Temme (Die Volkssagen der Altmark).
76. Die weiße Taube.
Eine Spreewaldsage.
Ums tote Kindlein die Mutter weint,
das längst mit den Engelcheu ist vereint;
sie hat tags und nachts keine Ruh',
klagt immerzu.
Und ob sie Blümchen im Lenze sieht,
ob's Vögelchen fort nach dem Süden zieht,
und ob Mond, ob Sonne scheint, —
sie klagt und weint.
Da schwebt herab von dem Himmelszelt
ein Täubchen nach dieser Erdenwelt;
zu der Mutter Kämmerchen hin
sieht man es ziehn.
„Der Herrgott, Mütterchen, will es nicht,
daß Sorge um mich dir dein Herz zerbricht;
laß das Klagen fernerhin sein,
sonst leid' ich Pein?"