1882 -
Leipzig
: Klinkhardt
- Autor: Jütting, Wübbe Ulrich, Weber, Hugo
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch, Lesebuch
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Vier- bis sechsklassige Volksschule
- Inhalt Raum/Thema: Weltkunde
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mir dich selbst giebst?" — Und der Jüngling wurde ein eifriger
Schüler des Sokrates.
Den Xenöphon wollte Sokrates gern zum Schüler haben.
Eines Tages begegnete er ihm in einem engen Durchgänge. So-
krates hielt den Stock vor, und der schöne Jüngling blieb stehen.
„Sage mir doch", fragte,, er ihn, „wo kauft man Mehl?" — Auf
dem Markte! — „Und Ol?" — Eben da! — „Aber wo geht man
hin, um weise und gut zu werden?" — Der Jüngling stutzte. —
„Folge mir, ich will es dir sagen!" fuhr Sokrates fort. Xenophon
folgte ihm und beide wurden unzertrennliche Freunde.
Vom Kleömbrötus wird erzählt, daß er sich vor Jammer in
das Meer gestürzt habe, nachdem er das letzte Gespräch des So-
krates gelesen.
Alcibiädes legt das schöne Zeugnis von Sokrates ab: „Wenn
ich sonst einen großen Redner hörte, so wurde ich ergötzt: ich fühlte,
daß er schön gesprochen hatte; aber bei keines Sterblichen Rede habe
ich das empfunden, was mich Sokrates empfinden ließ. So oft ich
ihn hörte, war ich wie bezaubert; meine ganze Seele wurde von
seinen Worten verwundet und voller- Unwillen, daß sie immer noch
so sklavisch und roh gesinnt war!" —
Wie die Lehren des Sokrates waren, so war auch sein Leben.
Er war äußerst müßig im Essen und Trinken, er kleidete sich jahr-
aus, jahrein in ein einfaches Oberkleid, ging immer barfuß, und
weder Nachtwachen noch körperliche Anstrengungen konnten ihn ermüden.
Er pflegte zu sagen: „Wer am wenigsten braucht, kommt der Gott-
heit am nächsten!"
Einer seiner Neider, der sich durch den Unterricht der Jüng-
linge große Reichtümer erworben hatte und sehr prächtig lebte,
sagte einst zu Sokrates: „Man sollte meinen, die Weisheit müßte
auch glücklich machen, aber du siehst wahrlich nicht danach aus; du
führest ja ein wahrhaft hündisches Leben!" — „Laß doch sehen",
antwortete Sokrates, „ob ich wirklich so unglücklich bin! Glaubst du,
daß meine einfache Kost mich weniger gesund und stark erhalte? Weißt
du nicht, daß es denen am besten schmeckt, die am wenigsten haben?
Und wenn ich im Sommer und Winter gleich gekleidet gehe und
keine Sohlen trage, wodurch mein Körper gegen jede Witterung ab-
gehärtet wird, kann dir das tadelnswert erscheinen? Was kann wohl
klüger sein, als sich nicht dem Schlafe, der Unmüßigkeit und der
Weichlichkeit zu ergeben, da man das Wohlleben doch nicht immer
haben kann? Wie würde bei solcher Verwöhnung der Schiffer fahren
und der Ackersmann sein schweres Geschäft treiben können? Wer
wird geschickter sein, dem Staate und dem Freunde zu dienen, ein
Mann wie ich, oder einer von denen, die du glücklich nennst? Wer
wird die Mühseligkeiten eines Feldzuges leichter ertragen? Du scheinst
das Glück im Überflüsse und Wohlleben zu suchen; ich aber glaube,
daß nichts bedürfen — göttlich ist!"