1882 -
Leipzig
: Klinkhardt
- Autor: Jütting, Wübbe Ulrich, Weber, Hugo
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch, Lesebuch
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Vier- bis sechsklassige Volksschule
- Inhalt Raum/Thema: Weltkunde
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ohne eine Summe von 100 Dukaten beizustecken, die im Laufe des
Tages an Arme oder Leidende gespendet wurden. — Josef liebte sein
Volk und wünschte, von ihm geliebt zu werden. So öffnete er den bis-
her nur dem Adel zugänglichen Augarten allem Volke zur Belustigung,
und als die adeligen Herren sich beklagten, dass sie nun nirgends mehr
ein Plätzchen hätten, wo sie ganz ungestört unter sich sein könnten,
erwiderte Josef: „Wenn ich immer nur unter meines gleichen leben
wollte, so müsste ich in die Kapuzinergruft hinabsteigen, wo meine toten
Ahnen ruhen.“
2. Nach dem Frieden, welcher im Jahre 1763 zu Hubertusburg
geschlossen worden war, standen die Beherrscher der österreichischen
und preussischen Monarchie in einem sein’ freundlichen Vernehmen.
Josef, welcher nach seines Vaters (des Kaisers Franz I.) Tode von seiner
Mutter (Maria Theresia) zum Mitregenten angenommen worden war,
beschloss bald darauf, den einst so furchtbaren Gegner derselben zu
besuchen. Friedrich hatte in der Gegend der Festung Neifse in Schle-
sien ein Lustlager veranstaltet und erwartete hier die Ankunft des
Kaisers. Dieser traf in der Begleitung zweier seiner berühmtesten Ge-
nerale ein, des Generals Laudon und Lascy. Friedrich bewillkommnete
ihn mit den Worten: „Dies ist der glücklichste Tag meines Lebens!“ und
der Kaiser erwiderte: „Nun sind alle meine Wünsche erfüllt!“ Es war
ein rührendes Schauspiel für alle Anwesenden, die zwei mächtigsten
Fürsten Deutschlands, welche sich so lange feindlich gegenüber gestan-
den hatten, in so friedlichem und freundschaftlichem Vernehmen zu sehen.
Wenn der Bulim, den Friedrich sich durch seine glücklich geführten
Kriege, durch die Trefflichkeit seiner Staatsverwaltung, durch die Kraft
seines Geistes erworben hatte, in der Brust des noch jugendlichen Kaisers
Gefühle der Ehrfurcht und Bewunderung für den ergrauten Preussen-
könig erwecken musste, so fühlte sich dagegen Friedrich von der liebens-
würdigen Bescheidenheit und dem Edelmute des kaiserlichen Gastes
mächtig angezogen. Als der König dem Kaiser den Vortritt lassen
wollte, sagte diesör mit der ihm eigentümlichen Bescheidenheit: „Das
Alter geht vor; der Sohn muss sich nie über die Verdienste seines Vaters
erheben wollen.“ So sprach der mächtigste Fürst von Europa. Friedrich
freute sich, auch mit dem Helden Laudon zusammenzutreffen, der ihm so
viel Schaden zugefügt hatte, und er behandelte ihn mit der grössten
Achtung. So wissen wahrhaft grosse Männer auch an ihrem Feinde das
Gute zu schätzen. Die beiden Fürsten verliessen einander, erfüllt von
gegenseitiger Bewunderung.
3. In Ungarn betrachtete Josef einst aufmerksam einen gefangenen
Gassenkehrer, der ein schöner, alter Mann war. „Warum arbeitet Ihr
in Eisen?“ fragte er ihn. — „ „Ich schlug vor meinem Hause einen
Hasen tot.““ — „Was habt Ihr sonst verbrochen?“ -— „„Nichts.““ —
„Sonst nichts?“ — „„Nein, gnädigster Herr!““ — „Wer ist Euer
Oberer? Ich will für Euch bitten.“ — „„0 nein, Euer Gnaden, nur das
nicht. Es bat schon einmal ein vornehmer Herr für mich, und das hat