1882 -
Leipzig
: Klinkhardt
- Autor: Jütting, Wübbe Ulrich, Weber, Hugo
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch, Lesebuch
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Vier- bis sechsklassige Volksschule
- Inhalt Raum/Thema: Weltkunde
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zu machen. Sie sind gewöhnlich 12—14 Mann stark, die beiden Nataäor68
(Hauptfechter) und ihre beiden Gehilfen mit eingerechnet. Ihnen folgen die
Picadores (Pikenträger) zu Pferde in Scharlachjacken, mit Silber besetzt.
Ihre sehr weiten ledernen Beinkleider sind mit weichem, braunem Papier
ausgestopft, welches den Hörnern der Tiere großen Widerstand leistet.
Sie nehmen ihren Platz längs der Schranke in einer Reihe, zur Linken des
Thores, durch das die Stiere kommen, und in einer Entfernung von dreißig
bis vierzig Schritten von einander. Die Fußkämpfer, ohne Waffen oder
irgend ein Verteidigungsmittel, außer ihren Mänteln, halten sich bei den
Pferden, um den Pikenträgern nötigenfalls Beistand leisten zu können.
Wenn dies alles nun in Ordnung ist, reitet ein Stadtdiener in altspanischer
Tracht zur Hauptgalerie hin und empfängt in feinem Hute den Schlüssel
zu dem Stierbehälter, der ihm vom Balkon zugeworfen wird. Der Stadt-
diener befördert den Schlüssel sogleich weiter an den Hausmeister. Die
Waldhörner ertönen unter dem lauten Jubel der Menge; die Thore öffnen
sich, und der erste Stier stürzt heraus auf den Kampfplatz. —
Wir lassen einen Reisenden den weiteren Verlauf erzählen:
Der Stier stand einen Augenblick still, übersah mit wildem Blick den
Schauplatz, fixierte sodann den ersten Reiter und machte einen heftigen Aus-
fall gegen ihn, ward aber mit der Spitze der Pike empfangen, die der Regel
gemäß nach dem fleischigen Teile des Halses gerichtet wurde. Eine ge-
schickte Bewegung mit der linken Hand und dem rechten Beine lenkte das
Pferd auf die linke Seite, wodurch es dem Horn des Stieres auswich, der
durch die erhaltene Wunde nur noch wilder gemacht, sogleich den nächsten
Pikenreiter angriff und dem Pferde desselben, das nicht so gewandt war
wie das erste, eine so tiefe Brustwunde beibrachte, daß es augenblicklich tot
niederfiel.
Die Heftigkeit des Stoßes hatte den Reiter auf der andern Seite des
Pferdes hinabgeworfen. Ein ängstliches Schweigen folgte. Die Zuschauer,
von ihren Sitzen aufstehend, sahen, zwischen Furcht und Hoffnung schwan-
kend, wie der wilde Stier an dem gefallenen Pferde feine Wut ausließ,
während der Mann, der sich nur dadurch retten konnte, daß er bewegungs-
los liegen blieb, allem Anschein nach wirklich tot war. Diese peinliche
Scene dauerte jedoch nur wenige Augenblicke, indem die Fußkämpfer, unter
lautem Geschrei und ihre Mäntel hin- und herfchwenkend, von allen Seiten
herankamen, und die Aufmerksamkeit des Stieres von dem Pferde ab und
auf sich zogen. Als nun die Gefahr des Reiters vorüber war, er wieder
auf die Beine kam und ein anderes Pferd bestieg, da war der Ausbruch
der Freude und des Beifalls so groß, daß man ihn am andern Ende der
Stadt mußte hören können. Unerschrocken und von der Rache gespornt,
griff er seinerseits den Stier an. Ohne mich jedoch in eine umständliche
Schilderung der blutigen Auftritte einzulassen, die nun folgten, will ich bloß
erwähnen, daß das wütige Tier die Reiter zu zehn Malen angriff, die
Pferde verwundete und zwei tötete. Eines dieser edlen Geschöpfe, obgleich
es aus zwei Wunden blutete, stellte sich, ohne zu wanken, dem Stiere ent-
gegen, bis es zu schwach ward und mit dem Reiter niedersank. Und doch