1882 -
Leipzig
: Klinkhardt
- Autor: Jütting, Wübbe Ulrich, Weber, Hugo
- Sammlung: Realienbuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch, Lesebuch
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Vier- bis sechsklassige Volksschule
- Inhalt Raum/Thema: Weltkunde
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flogen. Massen von ihnen wurden vernichtet, eine Woche und länger
genoss die Bevölkerung nichts als das Fleisch oder das Fett der Tauben,
und es war von nichts als von Wildtauben die Rede. Die Luft war
währenddem gesättigt von der eigentümlichen Ausdünstung, welche
dieser Art eigen ist.
Vielleicht ist es unnütz, eine Schätzung aufzustellen von der An-
zahl der Tauben, welche ein solcher Schwarm enthält, und von der
Menge der Nahrung, welche er vertilgt. Nimmt man an, dass der Zug
eine Meile breit ist — was durchaus nicht übertrieben genannt werden
darf — und dass er bei der angegebenen Schnelligkeit ununterbrochen
drei Stunden währt, so erhält man ein Parallelogramm von 180 eng-
lischen Geviertmeilen. Rechnet man nur zwei Tauben auf die Geviertelle,
so ergiebt sich, dass der Zug aus einer Billion, hundert und fünfzehn
Millionen, hundert und sechsunddreifsigtausend Stück Wandertauben be-
steht. Da nun jede Taube täglich einen halben Spint an Nahrung be-
darf, braucht der ganze Zug eine Menge von acht Millionen, siebenhun-
dert und zwölftausend Busheis (engl. Scheffel) täglich.
Sobald die Tauben Nahrung entdecken, beginnen sie zu kreisen, um
das Land zu untersuchen. Während ihrer Schwenkungen gewährt die
dichte Masse einen prachtvollen Anblick. Je nachdem sie ihre Richtung
wechseln und die obere oder untere Seite dem Beobachter zukehren, er-
scheinen sie bald blau, bald purpurn. So ziehen sie niedrig über den
Wäldern dahin, verschwinden zeitweilig im Laubwerk, erheben sich
wieder und streichen in höheren Schichten fort. Endlich lassen sie sich
nieder. Sobald sie gefasst haben, sieht man sie emsig die welken
Blätter durchstöbern, um nach der zum Boden gefallenen Eichelmast zu
suchen. Die Nahrungsmenge, welche vom Boden aufgesucht wird, ist
erstaunlich gross; aber das Aufsuchen geschieht so vollkommen, dass eine
Nachlese vergebliche Arbeit sein würde. Während sie fressen, sind sie
zuweilen so gierig, dass sie beim Verschlucken einer Nuss oder Eichel
keuchen, als ob sie ersticken müssten. Ungefähr um die Mitte des Tages,
nachdem sie sich gesättigt haben, lassen sie sich auf den Bäumen nieder,
um zu ruhen und zu verdauen. Wenn die Sonne niedersinkt, fliegen sie
massenhaft den Schlafplätzen zu, welche gar nicht selten Hunderte von
Meilen von den Futterplätzen entfernt liegen.
Betrachten wir nun einen dieser Schlafplätze, meinetwegen den an
dem grünen Flusse in Kentucky, welchen ich wiederholt besucht habe.
Er befand sich in einem hoch bestandenen Walde, welcher nur wenig
Unterwuchs hatte. Ich ritt vierzig Meilen in ihm dahin und fand, da
ich ihn an verschiedenen Stellen kreuzte, dass er mehr als drei Meilen
breit war. Als ich ihn das erste Mal besuchte, war er ungefähr vier-
zehn Tage zuvor in Besitz genommen worden. Zwei Stunden vor
Sonnenuntergang kam ich an. Wenig Tauben waren zu sehen; aber viele
Leute mit Pferden und Wagen, Gewehren und Schiefsvorrat hatten sich
rings an den Rändern aufgestellt. Zwei Landwirte hatten über drei-
hundert Schweine mehr als hundert Meilen weit hergetrieben, in der